Es ist Herbst geworden. Heftige Gewitter und Stürme haben die Hitze vertrieben. Manchmal kommt Sturm auf, der den Winter ahnen lässt.
Mein Garten ist schnell verwildert. Unordnung im Paradies. Im Frühjahr wird es die ersten Beschwerden geben. Der Apfelbaum steht fast nackt da. So, als schäme er sich. Und er schweigt. Der Pirol ist auf und davon. Der Korbstuhl steht noch vor der Laube. Er ist voller Laub.
Hans Schorn lebt wohl wieder in der Gruppe. Doch manchmal klettert er auf die alte Kastanie. Da sitzt der Junge auf dem Baum. Ich steige ihm hinterher. Inzwischen ohne Leiter. Aus eigener Kraft. Der Junge und ich sitzen auf dem Baum. Jeder auf seinem Ast. Der Baum wippt und schaukelt uns. Wir sprechen nicht. Wir sind auf Reisen. Immer öfter begegnen wir uns. In einer Straße in New York. Am Ufer des Baikal. Auf dem Weg zum Kilimandscharo. Auf einem der Meere. In einem der Wälder. Unser Erkennungszeichen ist ein Lachen. Wir gehen ein Stück Weges zusammen. Dann trennen wir uns wieder. Einer nimmt vom anderen etwas mit. Dies und das. So ein Gefühl von Leichtigkeit und Schwere. Es gibt kein Wort dafür. In keiner Sprache. Man muss es erleben.
DIE DIREKTORIN
Liebe Sonja!
du wirst erstaunt sein, von mir Post zu bekommen, habe ich doch alle Deine Briefe und Karten nicht beantwortet. Aber ich weiß, du bist nicht nachtragend. Vergessen habe ich dich nie, aber immer wieder weggeschoben, denn die Erinnerung war mir unbequem, sie erschien mir unpassend wie ein Kleid, das aus der Mode gekommen ist. Inzwischen trage ich lieber Männerhosen, sie vermitteln ein Gefühl von Sicherheit. Weißt du noch, wir trugen einmal die kürzesten Röcke, wir zeigten gern unsere Beine, und es war, als wollten wir den Beweis führen, dass wir die Grenzen unserer Kindheit überschritten hatten. Die Dozenten störten sich nicht daran. Erinnerst du dich noch an die Gruse? Sie gab Geschichte, wir nannten sie wegen ihrer Putzsucht nach so einem Scheuermittel "Meister Fleckenlos", also die Gruse fand uns wenig vorbildhaft als Studentinnen der Pädagogik. Lehrer, so sagte sie immer, sei kein Beruf, sondern eine Berufung.
Sonja, erst heute ist mir bewusst geworden, wie recht die Frau hatte, auch wenn sie ohne Lust und Liebe war und uns gern keimfrei den Schülern gegenüber gestellt hätte.
Was ich dir sagen will, entschuldige, dass ich so lange geschwiegen habe. Aber ich habe die vergangenen Jahre gebraucht, um zu begreifen, was da eigentlich passiert ist. Selbst heute kann ich es noch nicht ganz verstehen. Erinnerst dich noch? Eines Abends standen wir uns bei einer Montagsdemo gegenüber. Du unter den Demonstranten, die 'Wir sind das Volk!' riefen. Und ich unter denen, die euch fotografieren und auseinandertreiben sollten. Wir standen uns wie versteinert gegenüber. Jede hat wohl in der anderen die Verräterin gesehen. Dann haben wir einander ins Gesicht geschlagen, uns umarmt und sind voneinander weggerannt. Wir hatten geglaubt, dass wir uns alles sagten, und doch hatten wir Geheimnisse voreinander. Heute kann ich dir verzeihen, und ich hoffe, ja, ich wünsche mir, dass du mir verzeihen kannst.
Oh Himmel, wir werden alt, liebe Sonja. Wir sind jetzt Ende der Zwanzig, und mit achtzehn dachte ich, so alt wirst du nie. Wir haben Vergangenheit, Mädchen, wer hätte das einmal gedacht. Dabei ist alles nur ein paar Jahre her, rein rechnerisch, aber mir kommt es vor wie eine Ewigkeit.
Inzwischen ist viel passiert, Sonja, Weltbewegendes. Aber es hat mich nicht so sehr beunruhigt wie das, was mir jetzt passiert. Ich komme plötzlich mit allem nicht mehr zurecht. Und nur, weil eines Tages ein Junge aus meiner Schule auf dem Baum sitzt statt im Klassenzimmer, immer wieder, stundenlang. Es ist wie in den Märchen, wo man an einer Kreuzung ankommt, an der alle die Wegweiser stehen. Bisher gab es nur einen Weg für mich, keine Frage, eine Straße, schnurgerade, und die bin ich gegangen. Nun weiß ich nicht, wie weiter, und so sehe ich zurück, und was mir da alles einfällt. Wie war das doch? Und dieses? Und jenes?
Wir wohnten im Internat zu viert in diesem Zimmerchen. Gleich am Einzugstag bildeten wir zwei Parteien, die Kliemann und die Renft kannten sich von der Oberschule, sie klammerten sich aneinander, wobei ich überzeugt bin, dass sie einander nicht ausstehen konnten und bestimmt jeden Morgen schadenfroh die Pickel im Gesicht der anderen zählten. Wir nannten sie die heiligen Kühe, weil der Dekan sie bei jeder Versammlung als Zierde der Studentenschaft ausstellte und uns zur Anbetung solcher Leistungen auf die Knie zwingen wollte.
Ich weiß, ich bin ungerecht, aber ich muss es sein, mir ist danach, es hat etwas Befreiendes und schmeckt zuckersüß. Weißt du noch, weißt du noch? Ich schlief im unteren Bett und du im oberen, und wenn eine von uns großen Kummer oder große Freude hatte, schliefen wir zusammen in einem Bett, bei Freude im oberen, bei Kummer im unteren, oder war es umgekehrt? Weißt du noch, wie oft du dachtest, du wärst schwanger, du wolltest schnell Erfahrungen sammeln, damit du in dieser Männerwelt dich als Frau behaupten lernst. Du sagtest: Macht ist eine Frage des Unterleibs. Oh Himmel, Sonja, du glaubtest fest daran, Mädchen, bis zu deiner ersten Abtreibung.
Und ich redete viel von Hingabe, hoffte auf den einen Richtigen, hatte infantile Phantasien vom Märchenprinzen, trotz aller Emanzipationsideale. Und tatsächlich, eines Tages kam er, Redford in einem altersklapprigen Golf, der mir als vergoldete Luxuslimousine erschien, Jazzliebhaber, heimlicher Dichter und mit einer Schwäche für westlichen Luxus. Oh, war ich hin! Wer sich das vorstellen kann, ein halbes Jahr gab es mich nicht mehr. Von wegen Befreiung, hast du gesagt, totale Unterwerfung, völlige Selbstaufgabe wegen dieser bescheuerten Orgasmen, die einen vergessen machen, dass eins und eins zwei und zwei weniger eins immerhin noch eins ist. An mich solle ich endlich wieder denken, ich müsse bestimmen, wann, wo und wie ich Lust empfangen wolle, täglich hundertmal solle ich ICH! schreiben.
Nicht ein einziges Mal hab ich Ich! geschrieben, nicht einmal ich gedacht hab ich, oh Himmel, ich war handzahm geworden, aber begriffen habe ich nichts, bis es kam, wie es mit so einer Geschichte eben immer kommen muss. Peng! hast du gesagt. Aus der Traum. Redford hat eine andere, dafür hast du dich wieder. Das ist nur gerecht. Lernen wir daraus, sagen die Pädagogen.
Weißt du noch, weißt du noch? Was wir alles wollten, nie heiraten, jede drei Kinder haben, zwei Mädchen und einen Jungen, oder doch lieber zwei Jungen und ein Mädchen, uns nie vor der Wahrheit fürchten, uns für unsere Überzeugungen einsetzen, nie Fett ansetzen, in jeden Zirkus gehen, einander ohne Parfüm riechen können, unsern Schülern ein tragfähiges Rückgrat anerziehen und ihnen ein Mundwerk bilden helfen, durch das die eigene Meinung findet ...
Ja, es ist etwas passiert, Sonja, eben das mit diesem Jungen, der auf diesem Baum sitzt, und ich kann nichts mehr begreifen. Ich will dir erzählen, was da vor sich geht, aber vorher muss ich dir noch sagen, wie ich lebe, wer und wie ich bin, oder richtiger: wie ich lebte, wer und wie ich war. Denn ich weiß nicht mehr, wie ich leben soll und wer und wie ich bin. Und das alles, stell dir vor, wegen dieses dummen Jungen auf diesem Baum!
Weißt du noch, wie wir gefeiert haben, als wir unser Diplom bekommen hatten? Wir fuhren noch zusammen in die Ferien, zelten an der Ostsee, dann mussten wir an unsere Schulen, du zurück ins Thüringische, und ich blieb in der Stadt.
Ich kam in eine Schule, die sich vor Altersschwäche kaum noch auf den Beinen halten konnte und sich mit Ordnung, Fleiß und Pünktlichkeit ein eisernes Stützkorsett angelegt hatte. Im Schulhaus und den Klassenzimmern roch es nach Rheumamittel, Baldrian und Knoblauch. Obwohl der Putz von den Wänden bröckelte und die Nässe bis in die oberen Stockwerke gestiegen war, glänzten das rissige Linoleum und die Fensterscheiben, und nirgendwo lag auch nur ein Schnippselchen Papier herum. Die Schüler blieben mir eigenartig gesichtslos, ich hatte Mühe, mir ihre Namen zu merken, und oft kam es zu Verwechslungen. Im Lehrerkollegium wurde ich "mein Mädchen" genannt, die Alten streichelten mir über die Haare, sie kochten Kaffee für mich und steckten mir Süßigkeiten zu. Ich fühlte mich ihnen gegenüber verpflichtet und auch schuldig, als würde ich sie insgeheim betrügen. Überhaupt kam mir unser Lotterleben im Internat wie ein Betrugsversuch an unseren Eltern vor. Ich war plötzlich wieder das Kind meiner Eltern, die mir mit ihrer besorgten Frage "Wie geht's?" sagten: "So geht's."
Es geriet ja gerade die Welt aus den Fugen damals im Herbst neunundachtzig. Wendezeit. Ich rief dich an, jeden Tag; aber du warst nicht zu erreichen. Ich wollte dich fragen, ob