Ich habe Hans Schorn noch nie lachen gehört. Ich wünsche mir, er würde einmal lachen.
Bis zu dem Tag, an dem er zum ersten Mal auf dem Baum saß, habe ich ihn kaum wahrgenommen. Er ist ein mittelmäßiger Schüler. Er gab bisher keinerlei Anlass zur Klage oder Freude. Er war einer von vielen. Ihr Gesicht verliert sich in einer Gruppe.
Hans Schorn sitzt im Klassenzimmer in der drittletzten Reihe. Eigentlich mittendrin. Er sitzt an einem Tisch mit Gundula Pfeiffer. Sie ist ein aufgewecktes Mädchen. Ihre Hand ist fast immer oben. Sie schnippt mit den Fingern. Ihr Gesicht glüht. Die Worte sprudeln ihr aus dem Mund. Sie hat den Jungen bisher völlig verdeckt.
Hans Schorn sitzt mit aufgestützten Ellenbogen. Seine Handflächen umschließen Kinn und Wangen. Mir fällt auf, dass das dunkle Haar kurzgeschnitten ist. Wie ein gemähter Rasen, auf dem ein paar Grasbüschel dem Messer widerstanden haben und sich zu Fragezeichen aufrichten. Seine Augen sind grün. Sie blicken durch mich hindurch. Manchmal drehe ich mich um, seinem Blick zu folgen. Aber ich sehe nur die Wand.
Es gibt da ein Mädchen. Christa Mällmann. In den Hofpausen hält Hans Schorn sich in ihrer Nähe auf. Er sieht sie nie direkt an. Sie lässt ihn rot und blass werden. Seine Lippen öffnen sich, wenn sie lacht. Sie werden schmal, wenn sie sich ärgert. Ein Junge aus einer elften Klasse interessiert sich für sie. Und er ist ihr nicht gleichgültig. Betritt Horst Rappke den Schulhof, werden Hans Schorns Augen dunkel. Er steht steif. Reibt sich mit der Faust über die Stirn.
Ist Hans Schorn wegen Christa Mällmann auf die alte Kastanie gestiegen? Will er ihre Aufmerksamkeit erregen?
Das kann nicht sein, sage ich mir. Das allein ist es nicht. Was will ich eigentlich da oben? Treffe ich da etwa in meinen späten Jahren noch auf ein Geheimnis? Wohl gar auf ein Wunder? Da muss ich nun doch Lächeln. Ich bin Lehrer. Spezialist für Erkennen und Erklären.
Es passiert, da folge ich Hans Schorn nach dem Unterricht. Ich fühle mich nicht gut dabei. Ich tue etwas Unrechtes. Aber ich kann nicht anders.
Ich beobachte. Der Junge holt seine Mutter von der Arbeit ab. Er trägt die vollen Einkaufstaschen nach Hause. - Der Junge fährt auf einem klapprigen Fahrrad davon. - Der Junge spielt mit anderen Jungen Fußball. - Der Junge schleift sein Taschenmesser an einem Stein. - Der Junge spuckt aus einem Fenster auf die Straße. Der Junge sitzt neben seinem Vater in einem Auto.
"Der Junge! Der Junge! Der Junge!"
Nichts Ungewöhnliches kann ich beobachten. Und doch tritt der Junge aus der Menschengruppe heraus. Manchmal ist er mir so nahe - da brauchte ich nur die Hand auszustrecken. Ich könnte ihn berühren. "Du", könnte ich sagen. Er würde mich ansehen. Den alten Hausmann. Seinen Lehrer. Ob er erschrecken würde?
Es geht etwas in mir vor, das ich nicht beherrsche. Ich muss aufpassen. Ich bin aus dem Gleichgewicht.
Wer ruft mich zur Ordnung? Wer spricht mir für mein Verhalten einen Verweis aus?
Ich fliehe in meinen Garten. Dort sperre ich mich ein. Mein Paradies: ein Gefängnis. Kein Blick über den Zaun. Im Apfelbaum der Pirol. Sein Gekrächz.
Diese Hitze. Keine Fenster. Keine Tür.
Es soll regnen. Endlich regnen.
"Du kommst jetzt sofort von da oben herunter!"
Ich stehe mit Lehrern und Schülern auf dem Schulhof. Bei der alten Kastanie. Wir schauen nach oben. In das bunte Laub des Baumes.
Hans Schorn sitzt wieder auf dem Baum.
Ich könnte es hinausschreien. Als die Nachricht des Tages.
Die Stimme der jungen Direktorin klingt sehr erregt. "Wenn du nicht augenblicklich heruntersteigst...! Aber dann...!"
Frau Wendisch sieht mich an. Hilflos und zornig. Ihr Blick sagt: Nun tun Sie etwas! Ihr Mund ist viel zu schmal. Er passt nicht in ihr Mädchengesicht. Es ist der Mund einer alten Frau, die Bitteres erlebt hat.
Ich zucke mit den Schultern. Nicke. Lächle. Aber sie will sich nicht beruhigen. Sie will Ordnung. Jetzt. Sofort.
"Mädchen", sage ich leise. "Mensch, Mädchen."
"Wenn du jetzt nicht sofort....!"
Die junge Direktorin verstummt mitten im Satz, dreht abrupt dem Baum den Rücken zu. Sie geht los. Mit kleinen schnellen Schritten. An mir vorbei. Sie sagt: "Kommen Sie in mein Zimmer. Sofort."
Wieder stehe ich im Direktorenzimmer vor dem Schreibtisch. Wieder sitzt die junge Direktorin dahinter. Zwischen ihren Augen ist eine steile Falte entstanden. Kaum zu sehen. Aber sie ist da. Meine Finger tasten die Stelle zwischen meinen Augen ab.
So neu erscheint mir auch das Zimmer nicht mehr. Die ganze Schule nicht. Scheiben, Treppengeländer und Wände zeigen deutliche Fingerabdrücke. Der Fußboden ist voller Fußspuren, die nicht mehr wegzuwischen sind. Die ersten Strichmännlein und Strichweiblein sind ins Türholz geritzt. Auf den Schülertoiletten sind männliche und weibliche Geschlechtsteile abgebildet und hässliche Sprüche zu lesen. Und auf dem Schreibtisch der Direktorin gibt es Flecke von verschüttetem Kaffee. Die Gardinenstange ist abgerissen. Holzreste vom Bleistiftspitzen liegen zwischen Heften und Ordnern.
Frau Wendisch spricht schnell. Sie stößt den Kugelschreiber auf die Schreibtischplatte. Um im Rhythmus zu bleiben.
"Herr Hausmann, ich bin unzufrieden. Ja, empört. Ich dachte, die Angelegenheit ist erledigt. Solche Dummheiten wie die von Schorn bringen den Kindern nur Verwirrung. Sie haben doch mit dem Jungen gesprochen?"
"Ja", sage ich. "Ich habe mit ihm gesprochen."
"Mit allem Nachdruck?"
"Er hat einen Verweis erhalten!"
"Die Eltern", sagt Frau Wendisch. "Kümmern sich denn seine Eltern nicht um ihn?"
"Doch. Ja", sage ich. "Ich habe den Eindruck."
"Aber was sollen wir denn tun?" Der Kugelschreiber bohrt sich in das Holz.
"Tja", sage ich. "Vielleicht sollten wir den Baum fällen." Ich lache, die Hand vor dem Mund.
Frau Wendisch sieht mich erstaunt, dann misstrauisch an. Sie sagt: "Für Späße habe ich jetzt nicht die Nerven, Herr Hausmann. Warum steigt der Junge nur immer wieder auf den Baum? Was - was will er denn da oben?"
"Tja", sage ich. "Das ist die Frage. Was will er da oben?"
Frau Wendisch malt mit dem Kugelschreiber Blumen auf ein Blatt Papier. "Ist Ihnen in Ihrem langen Lehrerdasein schon einmal so etwas passiert?", fragt sie. "Setzen Sie sich doch!"
Ich setze mich auf den Besucherstuhl. Der ist hart. Sie reicht mir ein Kissen. Ich sage: "Nein. Das ist es ja. Ich fühle mich wie ein Anfänger. Nach all den Jahren. Jahrzehnten. Da geschieht etwas. Ich finde keine Erklärung."
Frau Wendischs Stimme ist jetzt weich und fragend. Ihre Lippen sind voller und etwas geöffnet. Sie sagt erleichtert: "Es beunruhigt Sie also auch?"
"Ja", sage ich. "Es verschafft mir Herzklopfen. Eine heiße Stirn und kalte Hände."
"Hier", sagt Frau Wendisch. Sie streckt mir über den Schreibtisch ihre Hand entgegen.
Ich zögere. Dann berühre ich ihre Hand.
"Aber Ihre Hand ist warm", sage ich. "Ganz warm".
"Ja?" Frau Wendisch ist überrascht. Sie sagt: "Aber Ihre Hand ist es auch. Sie ist heiß."
"Heiß", sage ich. "Mein Gott, heiß, sagen Sie."
Für ein paar Augenblicke halten wir über den Schreibtisch hinweg gegenseitig unsere Hände.
Wir sitzen ruhig auf den Stühlen. Durch das Fenster ist die alte Kastanie zu sehen. Im dichten grünen Laub sitzt der Junge.
"Eine verrückte Welt", sage ich.
"Ja", sagt Frau Wendisch. "Ja, manchmal ja."
"Immer", sage ich. "Immer".
"Aber...",