Gunter Preuß
Die Schule auf dem Baum
Drei Erzählungen
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Inhaltsverzeichnis
DIE SCHULE AUF DEM BAUM
- Drei Blicke ins Grün -
DER LEHRER
"Du kommst jetzt sofort von da oben herunter!"
Da sitzt ein Junge auf einem Baum. Hoch über der Erde. In einer Kastanie sitzt er. Sie steht mitten auf dem Schulhof. Sie ist hundert Jahre und älter. Ihren Stamm können drei Menschen nicht mit ihren Armen umspannen. Er hat in Brusthöhe Löcher von Einschüssen. In seine Rinde sind Herzen und Namen gekerbt. Die Baumkrone ist grün und breit und dicht.
Alle Lehrer und Schüler sind auf dem Schulhof. Sie sehen nach oben. Nichts bewegt sich. Und doch sitzt da jemand im Grün.
"Wenn du nicht augenblicklich heruntersteigst...! Aber dann...! Du wirst was erleben...!"
Ich stehe im Lehrerzimmer am Fenster. Hinter der Gardine. Ich schließe die Augen.
Es ist September. Das neue Schuljahr hat soeben begonnen. Ich stehe im Direktorenzimmer vor dem neuen Schreibtisch. Alles ist hier neu, die ganze Schule. Nur die Kastanie stand schon vorher hier, länger auch als die alte Schule, länger als der ganze Sozialismus, der in alle Ewigkeit dauern sollte.
Hinter dem Schreibtisch sitzt die Direktorin, Frau Wendisch.
Sie ist neu hier. Alles an dieser Schule ist neu. Außer dem Baum.
Und außer mir.
Die Direktorin stößt beim Sprechen mit dem Kugelschreiber auf die Schreibtischplatte. Sie sagt: "Der Junge auf dem Baum. Herr Hausmann, so geht das nicht weiter. Die Schule kommt noch ins Gerede. Der Junge ist aus Ihrer Klasse. Unternehmen Sie etwas."
Die Direktorin sieht noch wie eine Studentin aus. Ein kluges, oft allzu eifriges Mädchen. Hübsch ist sie, eben jung. Sie blickt mich mit dunklen zornigen Augen an. Ihr Mund spannt sich schmal. Zu bitter, zu streng für ihr Alter.
"Herr Hausmann."
Lächeln Sie doch, möchte ich ihr sagen. Lächeln Sie erst einmal. Bitte.
"Herr Hausmann!"
"Jawohl. Ja."
Tatsächlich, ich werde rot wie ein Schuljunge. Ich verschränke die Hände hinter dem Rücken und senke den Kopf.
"Hans Schorn ist Ihr Schüler", sagt Frau Wendisch. Sie stößt die Spitze des Kugelschreibers hart und schnell auf die Schreibtischplatte. "Ich frage Sie, wie lange wollen Sie sich das noch mit ansehen?"
Ich lockere meine Haltung. In diesem Ton darf sie nicht mit mir reden. Wieder meldet sich in mir der Schuljunge. Mit Trotz. Ich bin geneigt zu sagen: Was wollen Sie eigentlich von mir? Mich geht das alles gar nichts mehr an.
Die Direktorin steckt den Kugelschreiber zwischen Rotstifte in einen Keramikbecher. Sie steht auf. Sieht kurz und prüfend in einen Spiegel, der zwischen Kinderzeichnungen an der Wand hängt. Sie greift nach dem Schminkzeug. Doch dann richtet sie das Etui auf der Schreibtischplatte gerade aus. Ihre Haltung strafft sich.
Sie sagt: "Sie sind mein Ältester und erfahrenster Lehrer. Bringen Sie das in Ordnung!"
Ich verspreche, Ordnung zu schaffen. Frau Wendisch reicht mir ihre Hand. Sie ist klein, fest und kühl. Ich verbeuge mich, viel zu altmodisch, es steckt eben in mir. Ich gehe. Vorsichtig will ich die Tür schließen. Sie rutscht mir aus der Hand und fällt laut ins Schloss. Ich murmele eine Entschuldigung.
Es ist Abend. Die Sonne sticht noch immer. Ich laufe durch meinen Garten. Von einem Ende zum anderen. Tomaten müsste ich abnehmen. Verblühte Rosen abschneiden. Gießen müsste ich. Es hat lange nicht geregnet.
Ruhe kommt in die Gärten. Das Gezwitscher der Vögel verstummt. Nur ein Pirol flötet sein "düdeldüo". Dazwischen krächzt er wie ein Rabe. Vom Mühlgraben her riecht es nach Moder. Der Geruch von gegrilltem Fleisch wird intensiver. Gahlichs Dackel kläfft müde.
Aus einem der Gärten höre ich Lachen. Von hier und da bekommt es Antwort.
Jetzt wäre es Zeit, mich in den Korbsessel vor die Laube zu setzen. Unter den Apfelbaum, aus dem es summt und wispert. Die Beine könnte ich auf den Stapel Obststiegen legen. Meine allabendliche halbe Zigarre könnte ich rauchen. In der Tageszeitung blättern. Oder ich könnte in die Mückenschwärme