Die Schwarze Biene. Jean-Pierre Kermanchec. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jean-Pierre Kermanchec
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738058345
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betreten, mit den Worten, es ist proella bei dir, mein armes Kind. So hat sie die Nachricht erfahren. Eine kleine Wachsfigur, die den Verstorbenen repräsentiert, wurde ihr übergeben.

      Die proella, wie die Insulaner den Brauch nennen, wird schon seit Jahrhunderten auf der Insel zelebriert. Die Leichen, der auf See verunglückten Männer, werden häufig nicht mehr gefunden. Mit der kleinen Wachsfigur wird der Verstorbene symbolisiert. Der Name proella stammt wahrscheinlich aus dem Bretonischen bro, Land und elez, was so viel wie zurückgeben bedeutet. Durch die Wachsfigur soll der Tote dem Land zurückgegeben werden. Die Figur wird während einer kirchlichen Trauerfeier in eine Urne gelegt und vom Priester in ein, zu diesem Zweck eigens errichteten, Monument in der Mitte des Friedhofs gebracht.

      Einige Jahre später starb ihre Mutter bei dem Versuch, einem Mann zu helfen, der an einer Klippe abgerutscht war und sich noch an einem Strauch festhalten konnte. Sie hatte versucht, ihm die Hand zu reichen und war dabei mit dem Mann in die Tiefe gerissen worden. So war Marie bei ihrem Onkel Pierre aufgewachsen, der sie wie eine eigene Tochter behandelt hatte. Er und seine Frau hatten keine eigenen Kinder. Für Marie würde Pierre Berthelé alles tun, wenn er ihr dadurch helfen könnte.

      Marie ging an den kleinen Schrank neben dem Tisch im Salon. Sie nahm aus der Schublade ein altes Heft, riss ein Blatt heraus, griff nach dem daneben liegenden Kugelschreiber und schrieb die kurze Notiz an den Kommissar Kerber. Sie setzte keinen Namen darunter, denn es bestand schließlich immer die Möglichkeit, dass die Nachricht in falsche Hände geraten könnte, und das würde sie in Schwierigkeiten bringen. Sie hoffte inständig, dass der Kommissar selbst auf die Idee kam, dass sie ihm die kurze Mitteilung geschrieben hatte. Sie nahm einen Umschlag, legte den Brief hinein, verschloss ihn und übergab ihn ihrem Onkel. Nach dem Abendessen würde er zum Hotel Le Fromveur gehen und den Brief an der Rezeption abgeben. Tanguy Kerlann war ein Freund von Pierre, der würde kein Sterbenswörtchen über die Identität des Überbringers aussagen, wenn er ihn darum bitten würde.

      Kapitel 6

      Ewen wachte früh auf. Carla schlief noch ganz ruhig. Er blieb still liegen, um Carla nicht zu stören. Er dachte über die gestern erhaltene Nachricht nach.

      Wenn Marie tatsächlich lebt und nicht verunglückt ist, warum dann dieses Theater? Warum hat sie sich nicht zu erkennen gegeben, als er sie in das Haus verschwinden gesehen hat und mit ihr sprechen wollte? Sollte ihre Angst vor dem Schreiber des Drohbriefes so groß sein, dass sie auch hier auf der Insel Ouessant niemandem traute? Warum aber schreibt sie mir dann? Er musste mit Paul telefonieren. Er wollte noch, vor dem Treffen am Abend, einiges über Marie Le Goff in Erfahrung bringen. Er hoffte, dass Paul inzwischen ihren Mädchennamen herausbekommen hatte und vielleicht auch einige weitere Details ihrer Vergangenheit. Für Ewen ergaben die Mordanschläge und der Drohbrief keinen Sinn.

      Was könnte eine junge Lehrerin verbrochen haben, dass man ihr nach dem Leben trachtete. Seine Gedanken kreisten um die üblichen Motive. Habgier, Eifersucht, Raub, Rache, seelische Verletzungen, Geisteskrankheit, vielleicht aber auch Zufälle und Irrtümer oder Verwechslungen. Alles könnte eine Rolle spielen, Ewen schloss kein Motiv aus.

      Er sah zu Carla und stellte fest, dass sie inzwischen erwacht war. Er küsste sie und wünschte ihr einen schönen Tag.

      Nach dem Frühstück rief er Paul Chevrier in Quimper an und fragte ihn nach den Ergebnissen seiner Nachforschungen.

      „Ewen, ich habe einiges in Erfahrung bringen können. Beide Elternteile von Marie sind bereits verstorben. Marie Le Goffs Adoptiveltern heißen Le Gall und stammen von der Île d´Ouessant. Marie ist schon als Säugling adoptiert worden. Ihre Adoptivmutter ist eine geborene Berthelé. Ich habe den Namen ihrer leiblichen Mutter noch nicht herausfinden können, ich arbeite aber daran. Ihr Adoptivvater ist bei einem Sturm auf dem Atlantik gestorben, beim Untergang seines Schiffes. Die Mutter hat bei einem tragischen Unfall ihr Leben verloren. Sie hat einem verunglückten Mann helfen wollen und ist mit ihm gemeinsam abgestürzt. Der Unfall ist aber nie wirklich untersucht worden. Die Schilderung des Vorganges beruht auf damaligen Annahmen. Ich fordere die Originalberichte von der police judiciaire aus Brest an. Vielleicht können wir Näheres daraus erfahren. Hast du etwas Neues in Erfahrung bringen können?“

      „Durchaus, ich habe dir ja schon gesagt, dass ich glaube, Marie gesehen zu haben. Als wir gestern Abend von einem kleinen Spaziergang zurückgekommen sind, hat mir der Hotelier eine Nachricht übergeben, die für mich abgegeben worden ist. Darin hat mich jemand um ein Treffen gebeten. Es ist keine Unterschrift unter der Notiz gewesen. Ich gehe dennoch davon aus, dass die Nachricht von Marie Le Goff stammt. Sie will mich am Abend treffen. Vielleicht erfahre ich dann Näheres über dieses seltsame Verhalten.“

      „Ich glaube, Ewen, du darfst Carlas Geduld nicht überstrapazieren. Sie ist doch bestimmt nicht sehr erbaut von deiner Tätigkeit während eures Urlaubes.“

      „Ich achte darauf, Carla wird mich am Abend zu dem Treffen mit Marie, sofern das Schreiben tatsächlich von ihr kommt, begleiten.“

      „Gut, dann wünsche ich euch erholsame Tage.“

      Paul legte auf und Ewen wandte sich Carla zu, die die aktuelle Ausgabe des Ouest-France las und gerade auf der vorletzten Seite bei den Wetterprognosen angekommen war.

      „Wir haben weiterhin Glück!“, sagte sie zu Ewen.

      „Das Wetter meint es gut mit uns. Wir werden am Nachmittag bis zu zwanzig Grad haben. Lass uns doch einmal den nördlichen Teil der Insel erkunden. Wir könnten zum Leuchtturm Stiff gehen.“

      „Einverstanden, Carla, wir machen uns auf den Weg, sobald auch ich einen kurzen Blick in die Zeitung geworfen habe.“

      Carla reichte ihm den Ouest France. Sie ging aufs Zimmer und zog sich um. Ewen blätterte die Zeitung durch. Ihn interessierte mehr der regionale Teil. Er wollte wissen, ob die Zeitung etwas über den Vorfall von Marie Le Goff geschrieben hatte. Auf den Seiten von Brest fand er eine kurze Notiz, die den Absturz einer Frau Le Goff auf der Insel beschrieb, ohne aber auf Einzelheiten einzugehen. Es war nicht genannt, dass ihr Ehemann von der police judiciaire in Brest befragt wurde. Ewen legte die Zeitung zurück und ging ebenfalls aufs Zimmer.

      Sie genossen die Wanderung über die Insel. Bis zum Leuchtturm Stiff waren es vier Kilometer. Der Turm lag nicht ganz an der Spitze der kleinen Landzunge, zwischen den Buchten Baie de Poull iferm und der Baie de Toull Auroz, sondern gute 400 Meter davor. Sie folgten dem Weg anschließend weiter, kamen am Hubschrauberlandeplatz, vor dem neuen Radarturm, vorbei und erreichten schließlich die Klippen.

      Direkt am Klippenrand stand ein kleines Haus. Alle Fensterläden waren verschlossen, das Haus schien verlassen zu sein, der Besitzer wohnte scheinbar nicht übers Jahr hier. An der Haustür hing eine Plastiktüte mit der jüngsten Ausgabe des Telefonbuches. Die Lage war traumhaft, das Haus weniger. Bei Sturm würde Ewen lieber nicht in diesem Haus wohnen wollen. Nicht auszudenken was passiert, wenn der Fels einmal unterspült werden sollte, dann würde das Haus ungeschützt in die tosenden Wellen stürzen. Auch kleine Kinder sollten hier besser nicht spielen. Kein Geländer oder irgendeine andere Absicherung schützte vor einem freien Fall, es waren schätzungsweise an die 60 Meter. Das Haus stand auf einer der höchsten Stellen von Ouessant.

      Auf dem weiteren Weg um die beiden Buchten wechselten sich steil abfallende Felsen und große Felsbrocken miteinander ab. Die Wellen brachen sich an dem Gestein, und die Wasserfontänen sprritzten weit über fünfzehn Meter hoch. Es war ein faszinierendes Schauspiel, beinahe noch beeindruckender als am gestrigen Tag. Ewen und Carla sahen dem Spiel lange zu. Dann folgten sie dem Küstenweg weiter, kamen an der kleinen Île Cadron vorbei, die unmittelbar vor der Insel lag. Etwas später konnten sie einen Blick auf die größere Île de Keller werfen. Danach machten sie sich auf den Rückweg in ihr Hotel. Sie waren über 12 Kilometer und einige Stunden unterwegs gewesen.

      Der Nachmittag war schon weit fortgeschritten, als Ewen und Carla auf den Liegestühlen im Garten des Hotels etwas Erholung von dem Streifzug über die Insel suchten. Tanguy Kerlann kam in den Garten und fragte, ob er ihnen etwas