Stadt der Sünder. Myron Bünnagel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Myron Bünnagel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738037531
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für mich gab es ein Profil. Manchmal hatte ich mich gefragt, wer meine Mutter wirklich war. Oder ob sie überhaupt nur jemand war. Ob ihre Gefühle, ihre Mutterrolle nicht auch einfach nur eine Verkleidung waren. Es schien so, aber das wäre wohl zu simpel. Die Persönlichkeiten in ihr waren komplex, zum Teil miteinander verknüpft – vielleicht war sie nur wirklich sie mit all diesen Nuancen …

      So lange ich denken konnte, verdiente sie ihr Geld mit Betrügereien, aber nicht nur. Es gab Zeiten, in denen hatte sie normale Jobs, die ihr sogar Spaß zu machen schienen. Verkäuferin, Sekretärin, Übersetzerin. Nicht wegen der Kohle. Vielleicht, um meinem Leben einen Anstrich von Normalität zu geben. Vielleicht, weil das Pflaster zu heiß war oder sie für den nächsten Bluff eine harmlose Identität aufbauen musste. Spätestens nach ein paar Monaten warf sie hin und war wieder involviert. Wie die meisten von uns hatte sie sich dabei über die Jahre eine Arbeitsethik zurechtgelegt. Sehr flexible Grundsätze, auf die sie stolz war. Dabei sah sie sich nicht als ordinäre Kriminelle, sondern als Handwerkerin. Immer bemüht, ihre Masche zu verfeinern, immer auf der Suche nach dem ultimativen Betrug. Sie vermied Gewalt und offenen Aufruhr, reizte lieber die Scham ihrer Opfer aus und hatte mir beigebracht, nicht zu gierig zu sein. Ich wusste sehr viel über ihre Arbeit, vor allem aus der Zeit, als wir zusammen aufgetreten waren. Wen sie so kannte, wen sie mied, in welchen Städten sie aktiv werden konnte oder durfte. Sie war überraschend sparsam, führte akribisch Buch über unsere Ausgaben. Dolores war nie im Knast gewesen und nur zweimal erwischt worden. Nach dem letzten Mal lebten wir ein halbes Jahr in der Tschechei.

      Sie war nicht immer eine gute Mutter gewesen, aber die einzige, die ich nun mal hatte.

      „Du hörst gar nicht zu, Gideon. Ist etwas nicht in Ordnung?“

      Wir waren beim Dessert angelangt, aber ich schaufelte auch diesen nur in mich hinein. Sie war beim vierten Glas Wein, ein bisschen betrunken, nicht zu sehr. Niemals sehr. Ihre Augen glitzerten, ihre Wangen waren gerötet. Dolores sah aus wie Anfang Dreißig, so alt wie ich, nicht wie Ende Vierzig. Ich konnte spüren, wie der Kellner den Blicke nicht von ihr nehmen konnte.

      „Nein, alles Bestens. Ich bin mit meinen Gedanken bloß ganz wo anders.“ Dabei sah ich auf die Uhr: Kurz nach neun, so langsam musste ich mich auf den Weg machen. „Außerdem muss ich gleich zu einer Verabredung.“

      „Ein Mädchen?“ War da ein Schimmer von Eifersucht in ihren Augen? Oder Spott? Wenn andere Frauen nicht gerade Teil eines Betruges waren, kam Dolores nicht sonderlich gut mit ihnen aus. Oder die Frauen nicht mit ihr.

      „Kann sein.“ Sollte sie denken, es wäre eine Geliebte.

      „Ich hoffe, keins von den Flittchen aus dem Club? Du weißt, was ich dir dazu gesagt habe.“

      Mein Lächeln war so falsch wie das Geburtsdatum in ihrem Pass. „Keine von denen.“ Manchmal vergaß sie, dass ich kein Teenager mehr war. Oder, reichlich verspätet, brachen Mutterinstinkte hervor.

      „Trotzdem finde ich es nicht nett, dass du mich allein lässt, mein Schatz. Nach meiner Reise hätten wir uns betrinken und einen Film ansehen sollen.“

      „Tut mir leid.“ Ich war ohnehin der einzige von uns beiden, der sich betrank. Vermutlich rührte es sie als Mutter, wenn sie mich sturzbetrunken ins Bett bringen musste. Mit einem Blick auf den Oberkellner ergänzte ich: „Außerdem wirst du nicht lange allein sein.“

      „Das war garstig von dir.“ Sie sah mich tadelnd an. Ein Zwinkern und ein Kuss auf die Wange besänftigten sie jedoch. „Sei leise, wenn du nach Hause kommst.“

      „Ich werde euch schon nicht aufwecken.“ Damit ließ ich sie am Tisch zurück und ging nach draußen. Auch wenn die Blicke des Personals stumpf und nichts sagend waren, beobachtete es uns sehr genau. Vermutlich waren wir Brennholz für ihren Klatsch. Na, wenn schon.

      Der Nachtportier hatte einen Anruf für mich aufgeschrieben, aber ich sparte mir den Rückruf. Es war Cornelia gewesen. Wenn es nach ihr ging, sollte ich alle paar Stunden Bericht erstatten. Ich würde den Teufel tun. Das hatte ich ihr heute Nachmittag schon gesagt. Sie sollte warten, bis ich was zu berichten hatte. Was vorerst nicht der Fall sein würde.

      Draußen war es kühl, aber immerhin hatte der Regen eine Pause eingelegt. Der Mond brach zwischen den Wolken hervor, während ich meinen Ford in Richtung Stadtrand lenkte. Zu DDR-Zeiten war der Sportplatz Trainingsstätte für diverse Sportgrößen, aber seit damals hatte die Gemeinde kein Geld mehr in ihn investiert. Die Tribüne war wegen Baufälligkeit gesperrt, das Vereinsgebäude hatte als Asylunterkunft gedient und war ausgebrannt. Der Rasen selbst war nun nicht mehr als ein holpriger Bolzplatz. Wir hatten früher darauf gespielt.

      Ich parkte hinter einer Baumreihe und saß einige Zeit völlig regungslos da. Wenn ich jetzt ausstieg, war ich wieder auf der anderen Seite. Dann hatte ich nicht durchgehalten, mein Wort gebrochen. Aber … was machte das für einen Unterschied? Diese Sache war narrensicher, alles war unter Kontrolle. Ich war nicht gierig. Geld war nur ein Aspekt des ganzen Plans. Es ging um Rache, und die konnte ich langsam genießen. Kein drastisches Handeln mehr, keine Gewalt. Nur ein wenig Druck. Ich durfte Bodo ohnehin nicht zu sehr in die Enge treiben, er war nicht zu unterschätzen. Aber jetzt zurückgehen, alles abblasen, wegen einem Versprechen, das ich ohnehin nur mir gegeben hatte? Und Dolores … die davon nichts erfahren würde. Nein, meine Entscheidung war gefallen. Jetzt ging es darum, die Sache durchzuziehen.

      Kurz vor zehn. Ich stieg aus, sah mich in der Dunkelheit um. Absolut still, keine Menschenseele in Sicht. Langsam ging ich zur Tribüne hinüber. Was, wenn er doch nicht kam? Wenn ich irgendeinen Faktor nicht kannte? Wollte er die Scheidung womöglich? Ruhig bleiben. Warten.

      Die Turmuhr in der Stadt schlug zehn. Ein paar Tropfen lösten sich zögernd vom Himmel. Ich fühlte mich beschwingt, leichtfüßig. Als hätte ich ein bisschen zu viel Wein getrunken. Meine Gedanken kreisten um das Geld – nicht viel, aber genug, um durchzuatmen. Vielleicht würde ich einige Zeit aus dem Hotel ziehen. Und dann … Kamilla. Auch wenn sie es nie erfahren würde, befreite ich sie aus der Umarmung dieses Schweins. Wenn ich es geschickt anstellte, hatte ich vielleicht sogar genug Kohle, um … Motorengeräusch riss mich aus meinen Tagträumen. Auf dem Parkplatz am Vereinsgebäude hielt der Jeep. Seine Scheinwerfer zerrten das verkohlte Gebäude aus der Schwärze, dann verloschen sie. Es war wieder ganz ruhig, nur der Wind in den Bäumen und der zunehmende Regen. Dann ging die Wagentür und ich sah einen Schatten. Der Größe nach war es Bodo, der sich aufmerksam umschaute.

      Jetzt ging es los. Ich trat aus meinem Versteck. Bemühte mich, entspannt da zu stehen. Wie bei einem Bluff. Keine Nervosität, keine Aggressivität zeigen. Wir konnten das ganz locker ablaufen lassen. Kein Stress, zumindest nicht an der Oberfläche. Ich war Bodos bester Freund, hütete sein kleines Geheimnis, sah zu, dass es sonst niemand erfuhr. Und dafür bekam ich eine Entschädigung, nichts Dramatisches. Ich lächelte sogar, als er auf mich zustapfte, ließ meine Arme baumeln. Keine Arroganz suggerieren.

      Er trug Holzfällerhemden, Jeans und Stiefel. Dazu Lederhandschuhe. Sein Gesicht war verkniffen, zumindest, was ich im Mondlicht davon sehen konnte. In seinem Haar glitzerten Regentropfen. Seine Schritte knirschten auf dem Boden. Entschlossen, selbstsicher – wie immer. Etwas kleiner als ich, aber ein paar Kilo schwerer.

      „Hallo, Bodo. Ich …“ Weiter kam ich nicht. Ich sah den Schlag nicht einmal kommen. Im nächsten Moment war er bei mir und die Faust traf mich an der Wange. Er hatte alle Kraft und Gewicht hineingelegt. Hinter meinen Augenlidern blitzte es grell auf, dazu ein stechender Schmerz, der meinen Schädel durchzog. Ich taumelte nach hinten, krachte unsanft gegen den Drahtzaun. Durch die Tränen konnte ich ihn nur verschwommen sehen. Die behandschuhte Faust. Er schlug wieder zu. Heftiger, weil meine Knie bereits eingeknickt waren und er von oben herab auf mich einprügelte. Wieder auf die gleiche Stelle. Ich riss einen Arm hoch, war aber viel zu langsam. Der Schmerz nahm noch zu, die Lichtpunkte wollten gar nicht mehr verschwinden. Blut rann mir in den Mund und ich fing an zu husten. Krallte mich mit einer Hand im Zaun fest, um nicht zu fallen. Spürte den nächsten Faustschlag. Ein Knirschen in meinem Kopf, dann Dunkelheit.

      VI. Näher am Abgrund

      Verdammt,