DIE LSD-KRIEGE. Gerald Roman Radler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerald Roman Radler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748592853
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kannte. Möglicherweise spürten sie auch mein Anderssein. Sonst konnte ich momentan keine befriedigende Erklärung finden für ihre Warmherzigkeit.

      Wir rauchten gemeinsam einen von Mike vorgefertigten Joint. Vor dem Anzünden hielt er ihn in die Höhe und ich sagte mit gespielter Bewunderung »oh«. Auch Tommy brachte recht spaßige Geräusche der Hochachtung hervor, die wie »hatschi halef Omar, Efendi« klangen. Mike verneigte sich stumm und blickte mir mit aufgesetztem Triumph in die Augen. Ich glaube, in diesen Sekunden wurde unser späteres Kommunikationsmuster während des Rauchens festgelegt. Wir unterhielten uns in den kommenden Jahren oft stumm in einer neu kreierten Gebärdensprache. Es bereitete mir keine Schwierigkeiten, den Rauch zu inhalieren. Ich füllte zuerst den Mund, dann atmete ich ein. Einige Male zog ich den Rauch direkt in die Lunge. Der Rauch war warm und aromatisch. Ich fühlte mich wohl und etwas abwesend, konnte aber keine grundlegende Änderung meines Zustandes bemerken. Plötzlich sprang Mike auf und sagte, er müsse noch für eine bevorstehende Mathematikschularbeit lernen. Ich hatte viel zu starke, eher unangebrachte Emotionen. Denn ich litt schrecklich unter der unerwarteten Trennung. Tommy schien aber meine Bangigkeit zu fühlen, denn er versuchte mich mit ungeschickten Gesichtsausdrücken aufzuheitern, die er mit einem Grinsen unterstrich. Mike verlor das Interesse an meiner Gegenwart. Er starrte mit glasigen Augen an mir vorbei und murmelte: »Mach‘s gut, bis bald!«

      Ich verstand, dass er uns aufforderte, zu gehen. Ich brach also mit Tommy gemeinsam auf, der ebenfalls ganz in der Nähe des Brunnenmarktes bei seinen Eltern wohnte. Auf der Straße fragte er mich, ob ich alles flächig sähe. Ich verneinte, weil ich gar nicht wusste, was er genau von mir hören wollte. Ich war enttäuscht und wunderte mich, dass ich eigentlich keine richtige Wirkung spürte. Verzweifelt suchte ich nach einer optischen Veränderung. Tommy ermahnte mich rührend, auf eine intensivere Farbsättigung und Helligkeit zu achten. Ich sollte auch auf die Verschiebung in die zweite Dimension achten. Nichts von alledem traf für meinen Gesichtskreis zu. So etwas sei häufig vorgekommen, dass es beim ersten Mal nicht recht klappte, meinte er. Man müsse sich erst auf die neue Art zu sehen und zu empfinden einstellen. Ich nahm ihm seine Ausführungen nicht ab. Entweder sprach ich überhaupt nicht auf den Rauch an, oder die Dosis war schlichtweg zu gering. Tommy verabschiedete sich vor einer vergitterten Hauseinfahrt. Er wirkte traurig und ließ regelrecht den Kopf hängen. Ich kam nicht auf die Idee, dass er, so wie ich, schlimme Probleme mit seinen Eltern zu bewältigen hatte und nur ungern in sein Zimmer im Gemeindehof zurückkehrte. Ich fühlte mich schuldig, denn ich bezog seine Stimmung auf meine Unfähigkeit, etwas Ungewöhnliches zu spüren. Meine schlechte Laune verflog allerdings am Heimweg. Ich genoss den Triumph mein erstes, hochgestecktes Ziel erreicht zu haben. Alles andere war unwichtig geworden: die Schule, meine Familie, meine Karriere und meine einstigen Freundschaften. Beim Einschlafen dachte ich daran, wie oft ich im Laufe meines Lebens an den Haustoren zu Mike und Tommys Wohnung vorbeigegangen bin, ohne meine Zukunft ergründen zu können.

      Schon tags darauf machten wir uns wieder auf den Weg zum Brunnenmarkt, allerdings war es abends. Tommy hatte mich am späten Nachmittag zu Hause angerufen und gefragt, ob ich Zeit hätte und ich wusste gleich, was es bedeutete. Ich war stolz darauf, dass er sich tatsächlich bei mir meldete. Damit hatte ich im Verlauf des Tages gar nicht mehr gerechnet, weil ich nichts gespürt hatte, oder ich vielleicht doch nicht in ihren Kreis passte. Ich hatte also neue Freunde. Wir verabredeten, uns in einer Stunde im Buwo zu treffen. Er saß am letzten Tisch des Lokals, als Jimi grinsend auf mich zukam, als wäre er verspätet und etwas übereilt zu unserem Date aufgebrochen. Mit seinem extremen Äußeren veränderte er sofort die Atmosphäre in jedem Raum. Mir gefiel sein abgewetzter, bleicher Jeansanzug, mit den zahlreichen verschlissenen Stellen. Eine Zigarette wippte in seinem Mundwinkel. Sie behinderte ihn nicht in seinen Bestrebungen, sofort den Flipper zu belegen, mir die Hand zu schütteln und ein kleines Bier zu bestellen. Er strahlte so viel Lebenskraft aus, dass ich keine Gelegenheit hatte, an meine Konflikte zu denken. Er lud mich auf einen Großen Braunen ein.

      Eine kleine grüne Stehlampe spendete mattes Licht, das kaum über die Tischplatte hinaus reichte. Ich fühlte mich unglaublich wohl. Ich hatte nicht erwartet, Jimi heute noch zu Gesicht zu bekommen. Wir tauschten einige belanglose Sätze aus, dann begab sich Jimi wie auf ein vereinbartes Zeichen zum vorpräparierten Flipper. Tommy betrat den Raum, ohne uns sofort zu erkennen. Dann aber steuerte er zielstrebig auf unseren Tisch zu. Er flüsterte Jimi einige für mich unverständliche Worte ins Ohr. Als der nickte, setzte er sich erleichtert. Kurz darauf brachte die Kellnerin Tommy ein kleines Bier und zwinkerte Jimi verschwörerisch zu. Er gab ihr ein großzügiges Trinkgeld und sie bat ihn um eine Zigarette. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass Eva – so hieß die rothaarige Serviererin – mit unserer Allianz sympathisierte. Zumindest wusste sie über unsere Betätigungen Bescheid und fühlte sich zu Tommy, Jimi und den Anderen hingezogen. Wie wurden nicht müde, den roten Wirbelwind beim Servieren zu beobachten. Sie wusste sicher um die Faszination, die sie auf uns Halbwüchsige ausstrahlte, und setzte sich durch ihre Bewegungen in Szene. Sie drehte regelrechte Pirouetten und rutschte auf den Sohlen ihrer Schuhe durchs Lokal.

      Dann nahm sie für einige Minuten auf einer unserer Bänke Platz, lümmelte mit ihrem Kinn in der aufgestützten Hand am Tisch und fragte arglos, was es so Neues gäbe. Sie legte ihre andere Hand auf den Tisch, wie um mit dem Aschenbecher zu spielen und Jimi schob ihr ein Stannioleckchen zu, das sie mit ihren Fingern angelte. Sie war einige Jahre älter als wir und genauso groß wie ich. Damit war sie eine imposante Erscheinung in der Welt der Frauen. Ihre Proportionen stimmten mit der ansehnlichen Statur überein. Sie erwiderte meinen Blick routiniert und streichelte meine Wange. Dann küsste sie mich mit einer gehauchten Berührung auf den Mund. Ich war mir sicher, dass es sich hier nicht um eine leidenschaftliche Regung, sondern um eine Art Aufnahmeritual handelte. Immerhin wusste ich jetzt von ihrem Geheimnis, dass sie mit uns teilte. Tommy setzte sich neben mich und erklärte mir umständlich, wie man einen Joint richtig rauchte, um das Gift optimal aufzunehmen und den Rauch gleichzeitig genügend filterte. Er unterschied dabei zwei Möglichkeiten: Entweder konnte man den Rauch schlucken, oder ihn mit Luft inhalieren. Er meinte, man solle ihn kurze Zeit in der Lunge behalten, damit das wertvolle THC aufgenommen werden könne, um ihn anschließend langsam auszublasen. Er gab mir einen kurzen Abriss der verschiedenen Sorten, ihren Beliebtheitsgrad und ihren Wirkungsradius. Er klärte mich über die mögliche, beigemengte Konsistenz von beliebten Streckmittel auf und wie man das Haschisch rauchfertig machte, indem es aufgebröselt und mit leichtem Tabak vermischt wurde. Jimi blickte von Zeit zu Zeit wissend zu uns herüber und grinste jedes Mal über beide Ohren. Tommys Stimme klang ernst und feierlich.

      Er war überhaupt ein melancholischer, ernster Mensch, der kaum Humor hatte, oder ihn vertrug. Er lachte höchstens einmal kurz auf, oder grinste schief. Ich war ein aufmerksamer Schüler, der das Gehörte gierig aufsog, und wusste gleichzeitig, dass Jimi die Aufklärungsstunde nicht unbedingt für notwendig erachtete. Mit Jimis Einverständnis verbrauchte ich noch die verbleibenden Spiele auf dem Flipper. Wäre er noch länger geblieben, so hätte er selbst am Flippertisch gestanden. Theoretisch hätten wir mit drei Spielen noch Stunden im Buwo verbringen können. Aber so drückte ich unkonzentriert eine Kugel nach der anderen ab, ohne auf ihr silbernes Rollen zu achten. Ich war ganz von den momentanen Ereignissen eingenommen.

      Es passierte alles genauso, wie ich es mir gewünscht hatte, als ich Louis Lewin‘s Buch Phantastica und Hans Peter Dürr‘s Schilderungen in Traumzeit über die Wirkungen der Halluzinogene aus der Bibliothek ausgeborgt hatte. Lewin war der Begründer der Toxikologie. Das Buch war schon damals längst nicht mehr auf dem aktuellen Stand. Aber gerade seine altertümliche Art zu schreiben und sein höchst unwissenschaftlicher Stil faszinierten mich. Lewin brachte erst Ordnung und System in die Reihe der Giftstoffe. Vor rund zweihundert Jahren warf niemand ein kritisches Auge auf die, in Verwendung stehenden Chemikalien. Das Volk benutzte die Stoffe eigenmächtig, oder bekam sie sogar vom Arzt verschrieben. Ursache und Wirkung blieben lang im Verborgenen. Ich entdeckte Jahre später, dass seine Feststellungen auf Hörensagen, Vermutungen und höchst subjektiven Berichten von Vergiftungen basierten, die genauso erfunden hätten sein können, um sein Theorem zu untermauern. Er begann Sätze mit »es wurde von einer Frau erzählt, die …«, oder »es soll ein Mann gelebt haben, der …«, oder »man berichtete vom Fall einer Dame, die es innerhalb kürzester Zeit auf einen Liter Äther pro Tag gebracht hatte …«