Am achtundzwanzigsten Juni bekam ich zur Zeugnisverteilung heftige Magenschmerzen, obwohl ich – oder gerade weil ich – statt eines Frühstücks vorsorglich einen Kamillentee getrunken hatte. Ich regte mich innerlich ziemlich auf, da die Benotung in einzelnen Fächern für mich unklar war. Ich ging unruhig im Klassenzimmer umher. Ich beobachtete die herausgeputzten Burschen und fühlte mich in meinem steifen, unförmigen, unprofessionell zusammengestellten Anzug unwohl.
Meine Mutter ließ einfach einen alten Anzug meines Vaters in der Änderungsschneiderei zurecht nähen. Ich war im Wachsen und es hatte aus der Warte der Eltern keinen Sinn, Geld für einen neuen Anzug auszugeben.
Schließlich betrat der Klassenvorstand den Raum und das Murmeln und Raunen der Schüler erstarb schlagartig. Die Beurteilungen wurden einzeln besprochen. Aus diesem Programm bestand im Wesentlichen alljährlich so ein besonderer Tag. Noch bevor mein Zeugnis an der Reihe war, steigerte sich mein Widerwille ins Hysterische. Ich ging, unter dem Vorwand, dringend die Toilette aufsuchen zu müssen, aus dem Klassenzimmer. Der Gang war leer und so begann ich zu laufen. Eine unberechenbare Übelkeit hatte sich meines Magens bemächtigt. Ich konnte den unbändigen Brechreiz kaum mehr unterdrücken. Einige Meter vor den Toiletten passierte es dann. Ich erbrach mich in einem mächtigen Schwall auf die frisch gereinigten Kacheln. Eine klare, schleimige Flüssigkeit breitete sich aus. Ich geriet in Panikstimmung und drehte mich hektisch um. Am Flur war es immer noch still. Sämtliche Schüler und Lehrer befanden sich in den Klassen in feierlicher Abschlussstimmung. Am nächsten Tag würden die Ferien beginnen. Ich drehte um, wischte mir den Mund notdürftig mit zwei eingesteckten Papiertaschentüchern und schlenderte scheinbar teilnahmslos und sehr erleichtert zurück.
Nichts war geschehen. Ein Blick über die Schulter bestätigte es. Das Erbrochene war durchsichtig und glänzte, als wäre der Boden extra aufpoliert worden. Obwohl mir immer noch der Gestank des verarbeiteten Kamillentees in die Nase stieg, roch in der Klasse niemand etwas. Eine halbe Stunde später war alles vorbei und einige Kollegen gingen mit mir den Gang entlang. Die Klassenzimmer öffneten sich. So auch die Türe zur achten Klasse. Die positiv bewerteten Schüler der Oberstufe rannten johlend und quietschend vor Erleichterung in Richtung der Toilettenlagen, um dort ihre wohlverdienten Zigaretten zu rauchen. Wir Unterstufenschüler standen etwas abseits und als der Erste über den trügerischen Estrich schlitterte und zu Boden fiel, lachten noch alle über seine Ungeschicklichkeit. Ich wusste aber sofort, dass dieser bedauernswerte Schüler über meinen schlüpfrigen Mageninhalt geschlittert war. Innerhalb von Sekunden purzelten zwanzig Schüler schreiend übereinander. Ich starrte gebannt zu der Horde strauchelnder Krieger. Sie alle fielen meiner Nervosität zum Opfer. Ich zuckte nicht einmal mit den Mundwinkeln. Es zeigte sich, dass es gar nicht so leicht war, einmal gestürzt, wieder auf die Beine zu kommen. Besonders die Träger von Holzpantoffeln rutschten mehrmals und hielten sich, die Beine im Spagat, fluchend aneinander fest. Sie rissen ihre Halt suchenden Freunde erneut mit ins Verderben. Später lehnten sie erschöpft und bleich an der Mauer, massierten ihre schmerzenden Gliedmaßen und schwören dem Schelm ewige Rache, der die Fliesen mit Schmierseife bearbeitet hatte. Zu ihrem Glück ahnten sie nicht, wie weit sie von der Wahrheit entfernt waren.
Der Schulwart wurde zur Ergründung und Beseitigung der Ursache dieses Desasters auf den Plan gerufen. Er allein konnte weder eine Lösung, noch eine Entscheidung treffen. Inzwischen wurde nämlich von der Mehrheit der Betroffenen an einen psychopathischen Anschlag mit einer unbekannten, zersetzenden Substanz geglaubt. Verzweifelt wurde auch noch nach der Schulwartin geläutet. Sie erschien missmutig und erschöpft von den vorangegangenen Vorbereitungen für die Schulfeier. Sie diagnostizierte keine geheime chemische Formel und keine heimtückische Lauge, welche die Haut der Betroffenen auflösen würde. Einige der Burschen untersuchten bereits die Oberfläche ihrer Haut und erwogen die Polizei einzuschalten. Die Schulwartin wusste sofort, was sie von dieser klaren Flüssigkeit zu halten hatte. Sie kniete am Boden und schnupperte. Und dann rochen es alle. Es verhielt sich wie bei einer Massensuggestion. Ich beobachtete schweigend, aber verriet mich nicht. Ich blieb im Hintergrund und besprach mich mit anderen, so wie es alle taten. Das Bild des Ganges verblasste und das Stimmengewirr der aufgeregten Schüler verhallte.
Zwei weitere Jahre benötigte ich, um mich aufzurichten. Ich erinnere mich noch an die wunderbare Nacht, in der ich ohne Magenkrämpfe und Gewissensbisse einschlief, obwohl ich nichts gelernt hatte. Der äußere Zwang bestand unverändert, doch als ich in mich hineinhorchte, gab es keinen Anlass mehr, mich anzustrengen. Der Bann schien gebrochen und die Idee, niemandem mehr gefallen zu müssen, war ein Geistesblitz, der mir bis zu diesem Tag verwehrt geblieben war. Ich konnte mir nicht erklären, wieso ich auf so eine einfache Schlussfolgerung nicht schon eher gekommen war. Hier ließ offensichtlich die Suggestion durch die Eltern allmählich nach, weil der Testosteronspiegel stieg. Ich wollte meine wahre Bestimmung finden. Unterstützt wurde mein Mut durch frappante Veränderungen, die ich an mir feststellte. Mir wuchsen bereits Schamhaare und Achselhaare. Ein kaum sichtbarer Flaum zeichnete sich auf meiner Oberlippe ab. Das reichte vorerst. Mir war egal, dass meine Eltern enttäuscht sein würden. Ich brauchte mir keine Gedanken zu machen, denn ich wusste ja, dass ich nur negativ abschneiden konnte. Diese Gewissheit, ruhig versagen zu dürfen, war trotz wahrscheinlich nachfolgender Ächtung und Bestrafung derart beruhigend, dass ich in tiefen traumlosen Schlaf fiel. Ich erwachte ausgeruht und frühstückte ohne anschließenden Brechreiz. Selbst das nervöse Lidflattern, das sich in letzter Zeit hinzugesellt hatte, war verschwunden. Kein schnelles, dumpfes Pochen hob und senkte meinen Bauch. Ich schlenderte wie ein Urlauber, der allerlei Sehenswürdigkeiten zu bestaunen hatte in die Albertgasse. Ich kam etwas spät und es störte mich nicht im Geringsten. Mein Herz schlug dennoch ruhig und ich fand das Verhalten der Mitschüler einfach lächerlich. Meine Sichtweise hatte sich praktisch über Nacht geändert. Ich hörte die aufgeregten Kollegen schnattern und laut ihre auswendig gelernten Texte wiederholen. Sie verglichen praktisch in letzter Sekunde ihren Wissensstand und fanden mit aufgerissenen Augen und hektischen Flecken auf den Wangen bisher verborgene Mängel. Ich selbst dürfte einen lässigen, ruhigen Eindruck bei ihnen hinterlassen haben. Ich kümmerte mich nicht um sie und besuchte das nächstgelegene Stockwerk, um in den höheren Klassen Ausschau nach neuen Freunden zu halten.
Als die Glocke zur Schularbeit schrillte, ließ ich noch einige Minuten verstreichen, bis sich der Gang leerte und mein Diskutant, der das Gespräch begonnen hatte, wurde allmählich nervös. Ich genoss den Triumph, dass er mich mit Bewunderung bedachte, weil ich seelenruhig plauderte, während die Unterrichtsstunde bereits begonnen haben musste. Dann sagte ich wie nebenbei, dass ich jetzt noch eine Lateinschularbeit hätte und verließ grinsend den verblüfften Burschen. Ich betrat mein Klassenzimmer. Jeder Einzelne sah vorwurfsvoll und ernst zu mir auf. Der Klassenvorstand zeigte sich über mein Verhalten völlig verstört. Er sah kopfschüttelnd auf die Uhr und meinte, die ganze Klasse hätte auf mich gewartet und es sei kostbare Zeit – unsere Zeit – sinnlos verstrichen. Durch meine Schuld mussten meine Kollegen schneller arbeiten, um die Schularbeit abzuschließen. Ich sagte ihm, dass ich diese fragwürdige Loyalität nicht gewünscht hätte. Er entgegnete, es sei üblich, sich nach dem Letzten zu richten. Dabei sah er mich mit zusammengekniffenen Augen an, gefährlich reglos kauernd wie ein Leguan. Ich meinte ruhig, er solle uns die Pause dazu schenken, worauf die Klasse einstimmig johlte. Er versprach es unter dem Druck der Mehrzahl. Doch sein lauernder Blick verhieß nichts Erquickliches. Ich brauchte keine Pause. Ich schrieb nur, was ich wirklich wusste und das war mager. Ich erhob mich träge und gab als Erster mein Heft ab. Ich grinste in das Gesicht des Klassenvorstandes. Er nickte wie eine Aufziehpuppe, während sich seine Pupillen stechend in meine Augen senkten. Sein Mund war verächtlich schief verzogen. Mir schauderte bei dem Gedanken, mich mit diesem Mann anzulegen. Nichtsdestoweniger fühlte ich mich aufgeräumt und entkrampft. Dann verließ ich, wie es Brauch war den Raum, um nicht zu stören und