DIE LSD-KRIEGE. Gerald Roman Radler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerald Roman Radler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748592853
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imaginäre Situation herangebildet, die außen nie stattfand, anstelle auf die kommenden Widrigkeiten vorbereitet zu werden. Deshalb reagierte ich chaotisch und unorthodox, als ich von Menschen überrascht wurde, die in mein wohlbehütetes Luftschloss einbrachen. Ich setzte mich zwar mit der Welt auseinander, aber nur theoretisch. Die Wissenschaften interessierten mich schon im Kindesalter. Aber nicht Menschenkenntnis, sondern Standardwerke über Psychiatrie verschlang ich. Ich verstand ihren Inhalt nur ansatzweise, den unergründlichen Rest reimte ich mir zusammen. Nicht Tiere hatte ich zum Spielen, um für ein Lebewesen Verantwortung zu übernehmen – ich entflammte für Zoologie und Mikrobiologie, um die Kreaturen zu bestimmen und das Unsichtbare unter dem Mikroskop zu enträtseln.

      Ich dachte die Welt sei ein wissenschaftliches Buch, dass man auswendig lernen kann und dann seine eigenen, persönlichen Einträge hinzufügt, was einem dann unübersehbar zu einem anerkannten Forscher prägt. Ich stellte mir mein Leben als Linie ohne Hindernisse am Weg des Lernens vor. Aber schon im Kindergarten und der Volksschule regierte das Gesetz der menschlichen Irrungen, Gefühle und Gemeinheiten. Alles was ich erlebte war wesentlich profaner und ich sah mich ständig den eigentümlichsten Angriffen ausgesetzt, die nichts mit Unparteilichkeit zu tun hatten. Neid und Missgunst, Intrige und Erpressung raubten mir schnell die Energie. Ich war völlig blind, obwohl meine Eltern vor mir ihre beruflichen Probleme besprachen.

      Meine Mutter hatte auf freiberuflicher Basis, schwer gegen unfaire Methoden der Konkurrenz und hinterhältiges Mobbing zu kämpfen. Sie fühlte sich als schlummernde Schauspielerin, die sich brüstete, wie Elizabeth Taylor auszusehen und vergleichbare Qualitäten zu besitzen. Auf einem gerahmten Foto, das vor meiner Geburt aufgenommen wurde und in ihrem Arbeitsraum hing, fiel eine gewisse Ähnlichkeit mit Liz Taylor tatsächlich auf. Die Nase und die Kinnpartie waren das auffälligste Detail der Übereinstimmung. Den Gesichtsausdruck hatte meine Mutter buchstäblich einstudiert. Das Foto sah wie ein Filmplakat aus. Jedenfalls war ihre Selbstdarstellung allerorts Filmreif. Wenn sie mit einem Vertreter einer Filmgesellschaft sprach, stützte sie ihr Kinn auf dem Handrücken ab und sagte mit gezierter Stimme, sie hätte wegen der Schwangerschaft mit Arthur, ein Angebot nach Amerika ausgeschlagen. Ich verstand ihrer Erklärung immer schon als Vorwurf. Ansonsten wurden wir Kinder von sämtlichen Unbilden ferngehalten, als beträfen uns die Probleme der Außenwelt überhaupt nicht. Die Eltern führten ihre Auseinandersetzungen auf einer Ebene, von der wir ausgeschlossen waren. Vielleicht dachten unsere Eltern, sie könnten uns mit Schwierigkeiten verschonen, indem sie uns im Dunklen tappen ließen. Sie dachten nicht an den kommenden Morgen und wir verstanden nicht den Inhalt ihrer Debatten.

      Ich hatte nicht den Eindruck, dass wir überhaupt am Leben von Vater und Mutter Anteil nehmen sollten. Ihre verschwiegenen Probleme und geheimen Angelegenheiten waren einer strengen Regelung unterworfen. Hier waren die Belange der Erwachsenen und dort war die Kinderwelt. Wahrscheinlich waren gar nicht einzelne Entgleisungen, wie Ohrfeigen, für die wir Kinder uns letztlich entschuldigen mussten, jene markanten Meilensteine, die einen Vertrauensbrauch herbeiführten. In der Art der Erziehung schlechthin war der Wurm drinnen. Bis zur Pubertät wirkten sich diese Fehler subluminal aus, weil wir sie nicht erkennen konnten. Dann begannen die Entartungen, sich auf das Familiengefüge auszuwirken. Die Eltern dachten, wir würden für immer Kinder bleiben, oder zumindest keine Änderung in unserem Wesen erfahren. Sie mussten geglaubt haben, wir würden für alle Zeit bleiben, was wir durch sie geworden sind. Dass ein Selbstfindungsprozess eintrat, war für sie nicht reproduzierbar.

      In der Schule lernte ich viele nutzlose Dinge. Eins davon war unzweifelhaft die Mengenlehre. Niemand wusste so genau, wofür die Komplementärmenge und die Durchschnittsmenge eigentlich gut waren. Das Computerzeitalter war schleichend angebrochen. In hilflosen Pionierversuchen versuchten die Lehrer ihre Klassen auf eine Veränderung vorzubereiten, für die es noch kein erprobtes Mittel gab. Wir spürten schon in der Volksschule, dass etwas vermittelt werden sollte, dessen Bedeutung im Dunklen lag. Die Mengenlehre stellte den halbherzigen Versuch dar, der neuen Generation das Gehirn eines Computers nahe zu bringen. Dazu hätte es allerdings qualifizierter Mathematiker bedurft, die wussten, wovon sie sprachen.

      Niemand ahnte, dass wir eine verlorene Generation waren. Verloren – weil wir einmal in der Wüste der Prozessoren und Festplatten mit einer völlig antiquierten Ausbildung hinter den rasenden Zeigern der Uhr des Fortschrittes hinken würden.

      Verloren – weil wir auf eine gesellschaftliche Ordnung vorbereitet wurden, die längst der Vergangenheit anheimgefallen war.

      EINE SPITZBEHÜTETE KINDHEIT

      Wir fuhren in den sechziger Jahren oft nach Nordtirol auf Urlaub, weil mein Vater die glücklichste Zeit seiner Kindheit in Innsbruck und der nahen Umgebung verbracht hatte. Er entschied, wie so oft im Alleingang, dass wir uns der Tradition entsprechend kleiden sollten. Daher richteten wir uns in dem Sportgeschäft, das sich im Parterre des Hauses befand, bodenständig ein. Nur durch die Farben der Lodenjacken unterschieden wir uns noch voneinander. Mein Vater trug eine Dunkelrote, meine Mutter eine Schwarze, mein Bruder eine Himmelblaue und ich eine graue Lodenjacke. Wir bekamen alle die gleichen, peinlichen, schwarzen Knickerbocker. Sie sollten wetterbeständig sein und waren daher aus festem Dralon. Dazu gab es die unumgänglichen roten, dicken Wollsocken. Sie kratzten und schabten auf der Haut. Schlecht sitzende, bockharte Wanderschuhe, die Hacken, anstelle von Ösen aufwiesen, sorgten für ein unlustbereitendes Gehgefühl. Ein Wulst bohrte sich hart in den Zehengrund. Wenn man den Fuß abrollte, spürte man einen schmerzlichen Stich am Rist und sie gaben in keine Richtung nach. Sie scheuerten an der Ferse und rieben die Knöchel wund. Dazu waren sie nicht dicht und zogen das Regenwasser, trotz Lederfett, wie ein Schwamm an.

      Die Hüte, die wir nach Anweisungen des Vaters zu tragen verpflichtet waren, spiegelten eine innerfamiliäre Rangordnung wieder. Mein Vater hatte einen grünen Filzhut mit vorne hinab gebogener Krempe und einer hängenden Feder vom Auerhahn. Meine Mutter trug einen Andreas-Hofer-Hut mit weißen, flauschigen Entenfedern. Ich hatte einen spitzen, hohen Hut in Grau, mit einer langen, aufstehenden Fasanenfeder. Mein Bruder wurde dazu verurteilt sich mit einem zu kleinen, grünen Hut mit zwei winzigen Federchen, die v-förmig abstanden, zu quälen. Von da an mussten wir die seltsame Tracht ständig tragen, die für lange Wanderungen ungeeignet schien. Die Knickerbocker schnürten den Blutfluss in den Beinen regelrecht ab, während die für den Sommer zu dicken Wollsocken die Waden unangenehm aufheizten. Unter den Hüten sammelte sich der juckende Schweiß und wir kratzten uns wie Affen am Kopf. Die Jacken waren heiß, bockig und hoben sich bei jeder Bewegung. Sie standen regelrecht steif von den Schultern ab, falls man nicht kerzengerade aufgerichtet war oder gerade selbstvergessen marschierte.

      Oben in Bergen war es kalt, dann fror man trotz der vermeintlich passenden Ausrüstung. Bei unseren endlosen Ausgängen in den Tiroler Bergen fühlten wir uns in der zweiten Haut so elend, dass wir nur selten die Schönheit der Umgebung wahrnahmen. Die aufgedrängte Ausstaffierung war komplett unzweckmäßig und meine Eltern glaubten, das Wandern sei eben so anstrengend für den Stadtmenschen. Das mag auch der Grund sein, wieso mein Vater ohnehin lieber am Asphalt ging. Stundenlang konnte er in sengender Hitze über den flirrenden, stinkenden Teerbelang schreiten.

      Das erinnerte ihn einerseits an den Krieg, denn er kam während der zermürbenden Touren regelrecht ins Schwärmen. Er erzählte dann, wie er sich unerlaubt von der Kompanie abgesondert hatte. Tagelang habe er dann in fremden Ländern auf Nebenstraßen, Expeditionen in unbekannte Regionen unternommen. So hätte er die letzten Winkel und Geheimnisse der Welt aufgestöbert, ohne einen Schilling dafür bezahlen zu müssen.

      Andererseits begeisterte ihn der moderne Straßenbau unbändig. Er erkundigte sich bei der Bevölkerung, wo neue Straßen im Entstehen waren, aber noch nicht freigegeben waren. Er klopfte an Türen und horchte die Anrainer nach historischen Details der Umgebung und geplanten bautechnischen Veränderungen aus. Auf den, für den Autoverkehr noch nicht freigegebenen Autobahnstücken und Landstraßen, die später das ganze Land durchziehen sollten, wanderten wir dann mit geschwollenen Beinen und heraushängender Zunge, bis endlich das Banner eines Gasthauses wie eine Fata Morgana am flirrenden Horizont auftauchte.

      Damit nicht genug. Überdies marschierten wir von Alm zu Alm. Diese ausgewählten Routen waren von Mängeln gezeichnet. Mein Vater