Ab und zu schafften wir es auch, uns durchzusetzen. Dann verbrachten wie den Tag im Garten auf den Schaukeln. Die Schaukeln bestanden aus zwei gekerbten Brettern unter denen Seile liefen, die an den Metallpfosten der Wäschetrockner montiert waren. Dort hutschten wir unentwegt dem Sonnenuntergang entgegen, nur um den gefürchteten Exkursionen zu entgehen.
Allmorgendlich freuten wir uns, wenn die Sonne heiß auf die Veranda schien, auf den bevorstehenden, in unserer Fantasie simpel gestalteten, Tag im Garten. So ein sonniger Abschnitt, in einem oft verregneten Urlaub, hatte aber seine Tücken. Mein Vater nämlich gedachte die strahlenden Tage »auszunutzen«. Immer wenn er das Wort ausnutzen beim Frühstück gebrauchte, wurde uns Kindern bange zumute. Mein Vater war der Meinung, dass die Regenwetterperiode jederzeit eintreffen konnte und wir dann ohnedies an das Haus gebunden wären. Ihm stand der Sinn nach Bildung und Ausflügen. Für mich bedeutete seine Leidenschaft nur stundenlange Übelkeit, nach den Anfahrten im heißen Auto, das unter der prallen Sonne einen unerträglichen Gestank im Fond ausströmte. Das hieß aber auch für mich und meinen Bruder endlose Langeweile und warten, bis meine Eltern mit ihrer Tour fertig waren und wir uns in die Rücksitze des Wagens fallen ließen. Wir konnten es nicht erwarten, endlich wieder in den Garten zu unseren Schaukeln laufen zu dürfen. Wir beteten, dass es zum Zeitpunkt der Rückkehr noch hell war und wir einige Stunden freibekamen, unserem Hobby zu frönen.
An solch einem sonnigen Tag fand ein merkwürdiges Ereignis statt.
Wir fuhren bald nach dem Frühstück nach Judenstein, um den Tag auszunutzen. Wir saßen im Auto und mein Vater bereitete uns auf die bevorstehende Rundreise vor, indem er Geschichten aus seiner eigenen Kindheit erzählte. Er hatte sich als Knabe oft in Judenstein aufgehalten, wo die Verwandtschaft seines Vaters ein Haus besaß. Der Bruder seines Vaters arbeitete als Pathologe in Innsbruck und zog seinen Neffen, meinen Vater in den Bann der Forschung. Es musste sich so ähnlich abgespielt haben, wie es mein Vater bei mir getan hatte. Vielleicht kopierte er den Wissenschaftler, der ihn so beeindruckt hatte.
Mein Vater konnte seine Geschichten spannend erzählen. Zumindest mich fesselte die gruselige Schilderung des Kreuzganges im Wald, der ihn, als er selbst noch ein Kind war, zutiefst beeindruckt hatte. Mitten im tiefen Wald war eine Passion aus Steinmarterln aufgebaut worden, in Gedenken an das »Anderl von Rindt«, das grausamen Räubern zum Opfer gefallen war. Anderl war ein Junge, verlief sich im Wald und wurde von einer, im Wald lebenden, Verbrecherbande geschändet und gevierteilt.
Auf der Fahrt nach Judenstein war mein Bruder im schwülen Fond eingeschlafen. Gemächlich fuhr mein Vater die Landstraße entlang und schilderte ausführlich, was er über die Geschichte wusste. Ich saß am Beifahrersitz und hing an seinen Worten. Ich stellte mir die schreckliche Situation vor, in der sich der Knabe befunden haben musste, obwohl ich nicht verstehen konnte, was »Anderl von Rindt« heißen sollte und was mein Vater mit »Passion« meinte. Ich starrte aus dem Seitenfenster und versuchte den vorbei fliegenden Wald mit meinen Augen zu durchdringen. Zwischen den Stämmen vermutete ich eine Räuberbande, die nach ihren Opfern Ausschau hielt. Ich schauderte. Die niedrige Geschwindigkeit, die mein Vater konstant hielt, erlaubte es, das Spiel des Sonnenlichts zwischen den Bäumen auf mich wirken zu lassen. Das Blätterwerk zauberte hüpfende Schatten in den Wald. Es sah so aus, als würden Gestalten einander verfolgen.
Bald endete die schmale, menschenleere Landstraße, die mein Vater eingeschlagen hatte, in einem Schotterweg. Noch einmal drosselte er das Tempo des Wagens. Langsam näherten wir uns einer Lichtung. Wir hatten alle Fenster hinab gekurbelt. Der Weg war so schmal, dass wir direkt zwischen den Stämmen fuhren. Die längsten Zweige der Tannen streiften meinen Unterarm, als wollten sie mich auffordern zu bleiben. Hier brütete eine dumpfe Hitze, unterstützt vom Schwirren tausender Insekten. Meine Fantasie war von der schrecklichen Geschichte überreizt. Ich fürchtete mit einem Mal, die Zweige der Bäume waren in Wirklichkeit die getarnten Arme von Räubern, die uns aus dem Auto in den Wald zerren würden. Mein Vater parkte den Wagen vor einem idyllischen Gasthaus. Da es sehr heiß geworden war, nahmen wir im Garten Platz und tranken Cola und Almdudler. Mein Vater inspizierte die Schenke gründlich und verglich ihren Zustand, mit dem, den er als Kind vorgefunden hat. Er kam zu dem Schluss, dass sich kaum etwas verändert hatte. Lediglich der Speisesaal war ein wenig renoviert worden. Er sprach die Kellnerin auf die frühere Besitzerin des Lokals an. Es stellte sich heraus, dass die Frau, die mein Vater gekannt hatte, die Mutter unserer Bedienung war. Die Freude war groß. Die Frau setzte sich zu uns und es wurden Schwänke aus dem vorigen Jahrhundert ausgetauscht. Allmählich erfasste mich lähmende Langeweile.
Zu meinem Entsetzen beschloss die Kellnerin, die auch die Eigentümerin der Wirtschaft war, in Eintracht mit meinem Vater, zu einem späteren Zeitpunkt, ein ausführlicheres Gespräch über die Vergangenheit zu führen. Mein Vater war guter Dinge und brannte darauf, uns die Passion zu zeigen. Danach wollten wir ausgiebig essen. Wir gaben unsere Bestellung auf und schlugen uns ins Dickicht. Ein schmaler Pfad, den mein Vater sofort wieder erkannte, führte durch den ebenen Hochwald. Er schwelgte in Kindheitserinnerungen, pries die schmackhaften Schwämme, die seine Eltern, sein Onkel und er gesammelt hatten. Er schilderte detailliert die Form seiner kurzen Lederhosen, die er als Bub getragen hatte. Sogar an die dazu passenden Socken, konnte er sich genau erinnern.
Auffällig war tatsächlich die Vielzahl der Pilze, die meine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Der Boden war von verschiedenartigen, farbigen Pilzen übersät. Mein Vater, der sich – einst angefeuert durch seinen Onkel – ziemlich gut mit den verschiedenen Arten auskannte, wies uns an, die Giftigen mit dem Spazierstock umzuwerfen, damit keine anderen Wanderer mehr versehentlich die falschen Schwämme pflücken konnten. Zuerst schlugen mein Bruder und ich wild mit unseren Stöcken auf alle bunten und schrillen Schwämme ein. Meine Mutter ermahnte uns streng, mit unseren Verwüstungen aufzuhören. Ihr gefielen nämlich auch die giftigen Pilze ausnehmend. Sie wären fürs Auge schön, meinte sie und hätten bestimmt eine Berechtigung im Kreislauf der Natur. Sie wurde von einem Augenblick zum anderen richtig böse und rollte die Augen wild. Mein Vater bestätigte, unter Druck geraten, kleinlaut ihre Ansicht.
Diese seltenen Momente seiner seltsamen reumütigen Umkehr, die er mit leiser betroffener Stimme untermalte, kannte ich bereits. Vielleicht folgte er damit einem inneren Gefühl, das ihm die eingelernten Muster zunichtemachen sollte. Er erklärte uns, dass auch die giftigen Pilze einen Platz in der Schöpfung hätten, genauso wie giftige Schlangen, ein Recht zu leben hätten. Damit war meine Mutter sofort besänftigt und fing an zu singen.
Mein Vater verstummte. Er war aus dem Konzept geraten. Während einer angestrengten Pause, die seiner krausen Stirne abzulesen war, ging er neben mir her und setzte mehrmals zum Sprechen an. Dann folgte die Beschreibung des stets mitgeführten Koffers seines Onkels, der Gegengifte für eventuelle Pilzvergiftungen, Schlangenserum und Bücher enthielt, die ihm das Erkennen seltener Pilze und Schlangen ermöglichte. Stundenlang wären sie durch die Wälder gestreift, erzählte mein Vater, und hätten Pilze bestimmt. Dabei hätten sie keine Furcht vor Vipern und Ottern gekannt, von denen es immer noch eine beträchtliche Population gab. Mein Vater ging aus diesem Grund vor uns her und schlug mit dem Spazierstock ins Gebüsch, um Schlangen zu vertreiben.
Mir gefiel der Gedanke, Pilze umzuwerfen immer weniger. Ich drehte mich nach meinem Bruder um, der anfallsweise wie besinnungslos immer noch auf alles eindrosch, von dem er annahm, es sei giftig.