Mine-Dine-Use und andere Generationengeschichten. Matthias Deigner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Deigner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754107690
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mehr gewesen, hinter vorgehaltener Hand pfiffen es seit Monaten die Spatzen vom Dach, doch ein gemeinsames Kind änderte einfach alles.

      »Stell dir den Skandal vor: Die Tochter des angesehensten Mannes der Stadt, gerade erst volljährig, unverheiratet und dann direkt schwanger von einem Mann, den niemand an ihrer Seite akzeptieren wollte. Dazu die öffentliche Schmach, vorehelichen Sex praktiziert zu haben und einen Bastard in sich zu tragen. Das war damals undenkbar. Ich hatte keine Wahl!«, klagte meine Großmutter mit erstickter Stimme, als wir vor Jahren gemeinsam auf der Bank saßen und die Enten am Ufer fütterten.

      In einer Nacht-und-Nebel-Aktion hatte sie ihre Sachen gepackt und flüchtete hierher, ans Ufer des Sees, um dort den Sommer über zu kampieren. So lange, bis mein Großvater das Geld zusammenhatte, damit sie gemeinsam durchbrennen konnten. Zumindest wäre das der Plan gewesen, hätte mein Urgroßvater nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das zu verhindern. Er konnte und wollte nicht akzeptieren, dass sein einziges Kind sich einfach so aus dem Staub machte und seine, wie er meinte, Zukunft wegen eines Metzgerjungen ruinierte. Er ließ nach meiner Großmutter suchen, machte der Metzgerfamilie das Leben schwer, drohte allen im Umfeld meiner Großmutter mit den fürchterlichsten Dingen, bis ihre beste Freundin Maria letztlich klein beigab und das Versteck meiner Großmutter verriet.

      »Ich bin aus allen Wolken gefallen, als plötzlich mitten in der Nacht zwei Polizisten vor mir standen. Sie ließen nicht mit sich verhandeln, drohten mir, dass sie mich mit Gewalt mitnehmen würden. Ich versuchte natürlich, davonzulaufen, aber es war so dunkel, ich bin hingefallen, hatte keine Chance. So ist es dann auch gekommen, dass ich in Handschellen abgeführt wurde. Mein Vater war so enttäuscht, du hättest seinen Blick sehen sollen, aber er hatte für das so genannte Problem bereits eine Lösung parat. Sie trug den Namen Karl Lassnik. Er war Medizinstudent im letzten Semester, seines Zeichens Sohn des hiesigen Arztes, entstammte einer hoch angesehen Adelsfamilie. Ich kannte ihn von der Geburtstagsfeier meines Cousins und wusste bereits, dass sich hinter der lieblichen Fassade ein spießiger, arroganter Schnösel befand. Ich wehrte mich, widersprach, doch mein eigener Vater verriet mich, hatte längst ein Übereinkommen mit ihm getroffen, die Details kenne ich bis heute nicht. Karl war bereit, mich zur Frau zu nehmen und das Kind als das seine großzuziehen. Das wollte ich natürlich nicht, aber sogar meine eigene Mutter machte mir Vorwürfe, dass ich nicht erkennen würde, was das für eine tolle Gelegenheit für mich war.«

      Ich höre jedes Wort meiner Großmutter so, als ob sie sie just in dem Moment ausgesprochen hätte – mit all den Emotionen, den ergreifenden Worten, dem glasigen Blick. Es ist, als säße sie neben mir und würde mir ein und dieselbe Geschichte Jahr für Jahr, Tag für Tag immer wieder aufs Neue erzählen und trotzdem lausche ich gespannt hin. Ein Schicksal, das mich immer wieder in seinen Bann zieht, das mich selbst betrifft, das niemals seine Spannung verliert, auch wenn man es zum hundertsten Mal hört.

      Nur drei Wochen nach dem ersten Kennenlernen fand die arrangierte Hochzeit statt. Mein armer Großvater musste tatenlos dabei zusehen, wie seine große Liebe einen anderen heiratete. Kurze Zeit später kam mein Vater auf die Welt. Er wurde Karl junior getauft, meine Großmutter hatte nicht einmal ein Mitspracherecht.

      Jetzt bin ich wieder da, dort, wo alles angefangen hat, an dem Platz, an dem die größte Liebesgeschichte der ersten Generation meiner Familie sich abspielte, dort, wo es im Sommer immer nach Meer roch. Meine Großmutter hatte damals Glück im Unglück. Sie musste zwar einen Mann heiraten, den sie nicht liebte, aber ebendieser verunglückte nur elf Monate nach der Hochzeit bei einem schweren Verkehrsunfall. Nicht, dass sie es ihm gewünscht hätte, aber so fügte sich das Schicksal und letztlich kam es so, wie es wohl schon immer vorherbestimmt war, nämlich dass meine Großeltern doch noch zueinanderfanden. Und auch, wenn dieser geheime Platz schon seit Jahren nicht mehr besucht wurde und die einstige Idylle langsam verblasst, wird das immer der Platz bleiben, an dem alles begonnen hat. Unser Urknall.

      Während die hochstehende Sonne wilde Schatten der umliegenden Pflanzen auf meinen Körper wirft, gedenke ich meiner Großeltern. Ich möchte ihnen die letzte Ehre erweisen, bete das Vater Unser, wie es sich gehört, und schlendere langsam zum Ufer. Es riecht vertraut, nach Meer, auch wenn das Wasser nicht mehr ganz so klar ist wie damals, als ich das letzte Mal hier war, mit der Asche meines Großvaters im Arm, meine Großmutter schluchzend neben mir, damals schon leicht betagt. Behutsam nehme ich die Urne aus dem Bio-Jutesack und lese still den Schriftzug, der darauf eingraviert ist.

      Bevor ich die Asche ins Wasser lasse, werfe ich einen letzten Blick zurück zur Bank. Sie ist verwittert, eindeutig gezeichnet, aber das eingeritzte Herz ist unverkennbar, bleibt weiterhin beständig, auch wenn alles herum langsam an Glanz verliert.

      Sanfte Wellen kommen und tragen sie davon.

      Ich wünschte, ich könnte bleiben.

       Und ich weiß

      Lisa Bichler

      Liege im Dunkeln.

      Im haltlosen Nichts.

      Strecke die Hände aus,

      die stützende Wand ist fort, keine Lehne, keine ruhige Stimme, kein Abwarten und Hoffen und Beten.

      Da ist die Wahrheit, eisig, streng und schwarz.

      Sie schont nicht, sie schuldet nichts.

      Da ist das Grauen, das mich krallt, würgt, nur stoßweise Atem gewährt, leiden lässt.

      Da ist das Vakuum, das mich in Watte hüllt, mich zu Boden legt, alle bunten Klänge in weite Ferne rückt.

      Da ist mein Mutterherz, das schreit, brennt, reißt, nein, du sollst leben, leben, leben und ich mir dir!

      Und dann bist da du, soeben erwacht.

      Dein zartes Lächeln, ahnungslos und wissend zugleich, lebensfroh und erschöpft.

      Dein vertrauensvolles »Mama?« ,

      deine tastende kleine Hand.

      Und ich weiß,

      ich kann nicht verstehen, aber

      ich will für dich da sein, für dich, du mein kleines Licht,

      dich lieben,

      mit dir leben, erleben, durchleben, Tag für Tag

      und alles, was kommen wird,

      zählt nicht im Heute.

       Pistazien und so

      Melanie Diaz Blanco

      

      Wie Muränen durchzogen Stimmungen Yasmins Gesicht. Der Brief war an ihren Sohn adressiert. An ihren geliebten Sohn.

      Kurz flüchtete sie in das Spiegelbild ihrer Haare.

      Blinde Finger tasteten auf dem Grund ihres Herzens, doch sie konnte nicht fühlen, ob das sich ankündigende Reißen des Brieföffners sie schmerzen oder trösten würde.

      Im Hof johlten junge Männer Parolen und warfen Bierdosen.

      8 Wochen war es jetzt her.

      »Bring Tee!«, begehrte Abu Abdul von nebenan.

      Doch Yasmin begann zu lesen.

       Wie glücklich muss Ihre Mutter gewesen sein, als das Licht der Welt Sie erblickte. Erfüllt von Ihrem Engelsgesichtchen, Ihrem süßen Duft, Ihrem ersten Singsang.

       Wie gesegnet muss sie sich gefühlt haben, weil sie für Sie da sein durfte.

       Sicher hat sie liebevoll über Ihren Schlaf gewacht, für Sie nur das Beste erhofft und Ihnen jedes Mal, wenn Sie das Haus verließen, ihre guten Wünsche und Gedanken hinterhergesandt.

       Unbewusst fühlt man diese Gedanken.

       Deshalb möchte ich Sie in Gedanken gerne fragen, egal wo Sie jetzt sind: »Was hat Sie


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