Mine-Dine-Use und andere Generationengeschichten. Matthias Deigner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Deigner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754107690
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richtigzustellen.

      »Ich heiße Leonie!«, habe ich mit Kleinmädchen- stimme zurück gepiepst.

      Aber mit den Jahren war ich fest davon überzeugt, dass es pure Absicht war, nur um mich zu ärgern.

      Hätte ich einen richtigen Vater gehabt, er hätte Bühler bestimmt eine reingehauen.

      Das habe ich mir zumindest immer vorgestellt.

      Warum ausgerechnet ich es war, die Bühler immerzu ärgern musste, wusste ich nicht.

      Lag es an meiner Brille? Den Sommersprossen?

      Sah mein brauner Lockenkopf komisch aus?

      Jedenfalls habe ich vieles versucht, damit er aufhörte.

      Ich fauchte ihn an, dass Mathilda nicht mein Name sei; ich zischte, er solle mich in Ruhe lassen. Unzählige böse Blicke habe ich ihm in den Jahren geschenkt, bis ich einfach nur noch resigniert an ihm vorbei trottete und mir wünschte unsichtbar zu sein. Aber er sah mich immer.

      »Ist der Rock nicht ein bisschen zu kalt heute, Mathilda?« Ich habe ihn gehasst!

      Schließlich aber, kam der erste Schultag nach den Sommerferien, als ich in die zehnte Klasse kam.

      Ich wappnete mich geistig, als ich in den Bus stieg und setzte ein finsteres Gesicht auf, als ich meine Fahrkarte vorzeigte.

      Aber Bühler war nicht da!

      Erschrocken blieb ich stehen.

      Hinter dem Steuer saß ein junger, schlaksiger Mann mit blondem Pferdeschwanz unter seiner Fahrermütze.

      Er sah mich an und wünschte mir einen guten Morgen.

      F. Neumann, stand auf seinem Namensschildchen.

      »Äh, alles ok bei dir?«

      Ich erwachte aus meiner Starre und wurde rot, weil ich ihn mit offenem Mund angestarrt hatte.

      »Ja«, sagte ich und eilte meinen Freundinnen hinterher.

      Den ganzen Weg über, beobachtete ich den Fahrer misstrauisch durch den Rückspiegel und grübelte.

      War Bühler krank? Oder – ich rechnete im Geiste die Jahre – konnte es sein, dass er schon in Rente gegangen war?

      Ich schätze ihn auf Mitte Fünfzig, aber im Schätzen war ich noch nie gut gewesen.

      »Was glaubst du, wie alt Bühler ist?«, fragte ich Julia neben mir.

      »Wer?«

      Als wir an der Schule hielten, ging ich noch einmal zu Neumann.

      »Entschuldigung.« Ich nestelte an einem Knopf meiner Jeansjacke. »Wo ist denn Herr Bühler heute?«

      Der junge Mann nahm seine Mütze ab und kratzte sich am Hinterkopf. »Tja, er ist tot.« Er setzte die Mütze wieder auf und zuckte die Schultern.

      »Hat sich schon länger gequält. Ist trotzdem immer arbeiten gekommen, bis er nicht mehr diensttauglich war«, fügte er hinzu, als ich weder antwortete, noch Anstalten machte, den Bus zu verlassen.

      »Hast du ihn gekannt? Die Beerdigung war vor zwei Wochen.«

      Noch immer antwortete ich nicht. Statt dessen stolperte ich mit zitternden Knien aus dem Bus. Um ein Haar wäre ich gefallen.

      »Leonie, was ist denn los?«, fragte Julia besorgt. »Du bist ja leichenblass!«

      Aber ich wusste selbst nicht, was mit mir los war.

      Ich ließ meine Freundin einfach stehen und rannte weg.

      Weg von dem Bus, weg von der Schule, einfach weg.

      Zum Friedhof.

      Meine Beine trugen mich wie von selbst dorthin.

      Ich irrte zwischen den Gräbern umher und versuchte zu verstehen, warum mich sein Tod so sehr traf.

      Ich habe ihn gehasst! Warum breitete sich jetzt eine dunkle Leere in mir aus?

      Da war es, das frische Grab. Aber die Blumen begannen schon zu welken.

      Ich ließ mich davor ins Gras fallen und atmete schwer, als ich den Grabstein näher betrachtete.

      Ein schlichter grauer Stein mit blasser Gravur.

      Meine Augen füllten sich mit Tränen.

      Ich fühlte mich so mies.

      Es tat mir leid, dass ich ihm so viel Böses gewünscht hatte.

      Hätte ich dich doch nur besser gekannt …

      Ich saß noch lange vor dem Familiengrab und starrte mit verschwommenen Blick auf den Schriftzug.

      »Hier ruhen Maria und Hannes Bühler

      mit ihrer geliebten Tochter Mathilda,

      die viel zu früh entschlafen ist.«

       Ferragosto in Altamura

      David Johann Lensing

      Der Hund sprang auf und huschte unter dem Küchentisch hervor. Ein schmutzbrauner Mischling mit Stupsschwanz und Hängeohren. Haltlos rutschten seine Krallen über die Terrakottafliesen, als er aus dem Raum flüchtete. Vielleicht erschrak ihn das Ächzen des Stuhls. Oder er spürte, wie Hunde eben sind, schneller als alle anderen, dass die Stimmung umschlug, in dem Moment, da Paolo sich auf dem ächzenden Stuhl niederließ. Am Kopfende des Tisches. Sofern ein Tisch zwei Kopfenden haben konnte.

      Denn am anderen, am eigentlichen Kopfende saß bereits, und davon gab es nur einen, der Herr des Hauses. Das war hier, in dem Obergeschoss eines Reihenhauses gleich, über der Bäckerei Pani di Alfi mitten in Altamura, immer noch der alte Alfredo – ein grobschlächtiger Mann. Der sein Leben damit verbracht hatte, Säcke zu schultern und mit einem Brotschieber, gleich einer mittelalterlichen Lanze die Öfen zu bestücken, zu entleeren und wieder zu bestücken. Ritter der Backwaren. Brandnarben übersäten seine kräftigen Arme bis hoch zu den Ärmeln seines Poloshirts, das er nur zu besonderen Anlässen anzog, wie dem heutigen. Ferragosto, Italiens Sommerwende. Von Alfredos schon früh schlohweiß gewordenem Haar behaupteten die einen, es sei bei der Maloche in der mehlverhangenen Hitze gebleicht, die anderen meinten, es käme von dem Stress, den ein Ernährer von sechs Töchtern plagte. Seine Augen waren über die Jahre, von denen Alfredo nunmehr sechzig und fünfe auf dem Buckel hatte, schlecht geworden – doch den Mann, der sich ihm frontal gegenüber niederließ, den sah er klar und deutlich.

      Aurora entging der Blick nicht, den ihr Vater rüberschickte, quer über den Tisch, von Kopfende zu Kopfende, zu Paolo, dem unverschämten Gast. Selbst der junge Francesco, der die Finger nicht vom Tafelmesser lassen konnte, hielt beim Spielen inne. Der Platz neben ihm, für Papà Paolo angedacht, war noch frei – und der Raum plötzlich ohrenbetäubend still. Der Junge ließ die Klinge neben den Teller sinken. Unter dem Tisch legte Mamma Aurora, sonst sehr sparsam mit Berührungen, ihre Hand auf des Burschen Knie. Sein Herz klopfte, die Stimmung drückte. Francesco rührte sich nicht, zählte stumm bis zehn.

      Und der Moment verstrich. Was auch immer der alte Alfredo Rossi seinem Gast und Schwiegersohn an den Kopf werfen wollte, es blieb ihm im Halse stecken. Paolo saß ihm Aug' in Aug' gegenüber, stellte sich in seiner Platzwahl mit dem Hausherrn auf eine Höhe – und so war es. Aurora wusste, dass sich niemand trauen würde, den in diesem Hause gehegten Groll gegen Paolo auszusprechen. Sie hatte bloß gehofft, dass er ihre Familie nicht provozieren würde. Doch ihre Hoffnungen baute Aurora auf einen Mann, der ihr selbst ein Fremder war.

      »Vorsicht, heiß!«, brach Teresa das Schweigen. Auroras ältere Schwester schwang eine dampfende Schüssel von der Anrichte, die einem Schlachtfeld glich, auf einen Korkunterleger in der Tischmitte und setzte damit den Wirbelwind, der seit Stunden durch die Küche fegte, wieder in Bewegung. »Wie kann das Essen heißer sein, als die Luft drum herum?«, krächzte Nonna Carolina, Francescos Großmutter, »ist ja nicht auszuhalten, dieser Sommer.« Sie löste die Schleife des Schürzenriemens