Ich hatte mich am Institut eingelebt und begeisterte mich langsam für das Thema meiner Arbeit. Eine notwendige Eigenschaft, wie Professor Oster, mein Betreuer, bemerkte. Als Doktorvater war er nicht unbedingt meine erste Wahl (falls ich ihn vorher schon gekannt hätte, hatte ich aber nicht) und seine cholerischen Anfälle hatten mir anfangs sehr zu schaffen gemacht. Aber er hatte auch ganz menschliche Momente. Ganz umgänglich. Sogar eher unkonventionell. Er kam aus Dresden. Dort hatte er eine Professur, bevor er nach Kiel kam. Im Grunde kamen wir beide gleichzeitig als die Neuen ans Institut. Eine Gemeinsamkeit, die uns verband, zart aber manchmal spürbar. Bei ihm zog sich der Abnabelungsprozess aus Dresden noch eine ganze Weile hin, sodass er zwischen Kiel und Dresden hin- und herpendelte. Dazu kam, dass er unzufrieden mit der Ausstattung seiner Kieler Büroräume war. Er konnte es durchsetzen, dass diese aufwendig renoviert wurden, bis er dort tatsächlich einzog. Das hatte zur Folge, dass er an seinen Kieler Tagen mein Büro belegte. Tage, an denen ich auf andere Räume oder die Bibliothek ausweichen musste. Es kam aber eher selten vor, meist ohne vorheriger Absprache oder Ankündigung.
Eine Nebenerscheinung der zunehmenden Identifikation mit der Forschung war die, dass ich mein bisheriges soziales Leben immer mehr vernachlässigte. Fuhr ich bisher immer mal wieder nach Lübeck, um Freunde oder meine Eltern zu besuchen, wurden jetzt diese Ausflüge seltener. Aus dem einfachen Grund, weil ich weniger Zeit hatte. Die Beschäftigung mit meiner Doktorarbeit erforderte mehr als einen acht Stunden Tag. Vielleicht auch, weil wir eher Ergebnis orientiert arbeiteten und sich Ergebnisse nicht automatisch nach acht Stunden Arbeitszeit einstellten. Dazu kam, dass es allen oder zumindest den meisten Doktoranden genauso erging. Aus dieser Schicksalsgemeinschaft heraus entwickelten sich schnell Freundschaften. Die wurden umso fester, je mehr Schicksal wir miteinander geteilt hatten. Und Gelegenheiten für größere und kleinere Schicksalsschläge gab es reichlich. Zu zwei Kollegen habe ich heute noch Kontakt. Aber davon später mehr. Fakt ist, dass auch unser soziales Leben immer mehr in der Forschungslandschaft verankert war.
Unser Institut war neben der Agrar- und Ernährungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Kiel eines der wenigen und wichtigen Forschungseinrichtungen Deutschlands, die sich mit Forschungsfragen aus dem angewandten Umweltbereich beschäftigten. Dem Bereich, dem ich wegen meines Forschungsthemas zugeordnet war. Und ein Bereich, der innerhalb des Institutes immer mehr Gewicht bekam. Aufgrund der Nähe zur Uni war der wissenschaftliche Austausch natürlich ausgeprägt. Aber dennoch war unser Institut bestrebt und allen voran der Dekan, in der Fachwelt für mehr Aufmerksamkeit zu sorgen, als die natürlich deutlich größere benachbarte Fakultät der Universität Kiel. Dies hatte zur Folge, dass unsere Arbeiten und Veröffentlichungen ein Niveau haben mussten, das meist über dem der vergleichbaren Arbeiten der Uni lagen. Ein Umstand, der zwar die Doktorandenzeit mühevoll machte, aber unter Umständen auch eher einen der begehrten Jobs in der Wirtschaft oder weiter in der Wissenschaft bringen konnte. Das jedenfalls war unser Trost, wenn die Kollegen von der Uni schon lange am Strand lagen oder Fußball spielten, während wir noch Daten analysierten oder Literatur wälzten.
Mein Mantel war schon etwas nass, als ich unser Institut erreicht hatte. Eine Treppe hoch, dann stand ich vor meiner Bürotür und mühte mich mit dem Schloss ab. Der hochgeschlagene, nasse Kragen klebte mir am Hals, ich hatte meinen Schal vergessen. Die Tür war nicht verschlossen. Ich trat ein und sah sofort, dass ich nicht allein war. Professor Osters Jacke lag quer über dem Schreibtisch. Gewachst, abgegriffen. Herr Oster selbst saß mit dem Rücken zu mir in seinem oder meinem Bürostuhl und starrte aus dem Fenster. Er hatte mein Eintreten nicht bemerkt. Durch seine eher zierliche Gestalt und der hohen Rücklehne lag sein Kopf entspannt auf der Nackenstütze. Bis auf den fast kahlen Schädel und seinem linken Ellenbogen auf der Armlehne, war von ihm wegen der Rückenlehne nichts zu sehen.
Er ließ sich durch mein Erscheinen nicht aus seiner Gedankenwelt holen. Obwohl ich diese Haltung von ihm schon kannte, irritierte es mich. Es war totenstill im Raum. Keiner rührte sich. Er starrte aus dem Fenster und ich wartete, dass er zum Ende damit kam. Dann erst registrierte ich das Chaos in meinem Büro. Einige Schubladen standen offen, viele Dinge lagen auf dem Boden verstreut herum. Ich begriff schnell, Oster hatte etwas gesucht aber nicht gefunden und hatte nun Mühe, einen cholerischen Anfall zu unterdrücken. In einer Animationsserie würden ihm jetzt Dampfwolken aus den Ohren pfeifen. Höchste Zeit für mich, den Raum geräuschlos zu verlassen. Was ich aber nicht tat. Die Wünsche eines Professors von dessen Augen abzulesen gehörte in den Bereich, den ich nicht gewillt war auszuführen, zumal er mir den Rücken zukehrte. Dann sollte er es schon sagen, wenn er ungestört bleiben wollte.
Ich missachtete also die aufsteigenden Dampfwölkchen und klopfte am Türrahmen. Dabei wünschte ich, so freundlich wie es mir gerade noch möglich war, einen guten Morgen. Sein Blick war starr auf das Fenster gerichtet, er ließ sich von mir in keiner Weise ablenken. Das Pfeifen der Dampfwolken war kaum noch zu überhören. Der Countdown hatte begonnen.
Was sollte ich tun, wieder hinausgehen? Ich musterte ihn einen kurzen Moment. Was war mit ihm los? Doch keine Dampfwolken? Ich ging auf ihn zu, keine Reaktion. Ich stand direkt an seiner Seite. Nichts.
„Herr Oster?“
Wirklich nichts, denn er war tot.
Es wurde mir klar, als mir seine blasse Gesichtsfarbe und sein unbeweglicher Blick bewusst wurden. Ich hatte noch nie einen toten Menschen gesehen. Aber in dem Moment hatte ich keinen Zweifel. Er lag in seinem oder meinem Bürostuhl. Niedergestreckt von schwergewichtigen wissenschaftlichen Problemen. Eine konkretere Todesursache war nicht zu erkennen. Feine Holzsplitter ragten von der geborstenen Schublade heraus. Die Schublade, deren Inhalt ich noch nie gesehen hatte. Nur Oster hatte einen Schlüssel dafür. Ich hatte angenommen, dass diese Schublade für Oster ein Symbol seiner Gegenwart in Kiel war. Wichtige Unterlagen befanden sich wohl kaum dort. Nun stand sie offen.
Ich musste raus, raus aus dem Raum mit dem Toten und am besten mich setzen. Mein erster Gedanke war, diese traurige Geschichte unserer Sekretärin, Frau Hubertus, weiter zu geben. Traurig ist nicht die richtige Beschreibung. Überrascht, bestürzt oder erschrocken passen vielleicht besser. Irgendetwas in diese Richtung.
Das Sekretariat war leer, Frau Hubertus war nicht am Arbeitsplatz. Bald aber näherten sich vom Flur her ihre eiligen Schritte. Wahrscheinlich war sie die Post holen. Sie grüßte munter und fragte freundlich, ob ich meinen Schlüssel vergessen hätte. Sie deutete auf meine Tasche, ob ich nicht in mein Büro hinein käme. Nein, das war es nicht. An ihrem Arbeitstisch angelangt legte sie einige Briefe ab und schaute mich fragend an. Wie sollte ich es ihr erklären? Ihr Blick glitt zurück zum Stapel der Briefe. Sie griff sich einige und schaute kurz auf. Auf meine knappe Information, dass er tot wäre, also Herr Oster, reagierte sie für mich überraschend, nämlich gar nicht. Sie ging zu den Postfächern, um die Briefe einzusortieren.
„Gestorben?“, fragte sie beiläufig, drehte einen Brief und las aufmerksam die Anschrift, bevor sie ihn einordnete.
Ich bat sie, mich in mein Büro zu begleiten.
„Mein Gott“, hauchte sie, als sie mit geraden Blick an mir vorbei zurück in den hellen Flur glitt. „Ihr Betreuer ist ja wirklich tot.“
Wir hatten wieder das schützende Sekretariat erreicht. Sie hatte mich nun verstanden und sich gleich, zumindest sprachlich, etwas vom Geschehen distanziert. Die Geschichte in meinen Verantwortungsbereich geschoben. Anders als ich hatte sie ihre Erste-Hilfe-Kenntnisse angewendet und zumindest den Puls von Herrn Oster gesucht.