Bevor ich wieder nach oben ging, trat ich hinaus auf die Straße. Inzwischen war ich nicht mehr die einzig wache Person. Immer mehr Autos fuhren die Avenida entlang. Ich trat ein paar Schritte vor, um besser die Straße entlang schauen zu können. Die ältere Dame bremste abrupt ihren Toyota ab und hielt, um mich hinüber zu lassen. Ich ging dann wirklich hinüber. Das Hotel war architektonisch vielleicht nicht eine Perle, genau wie alle anderen Häuser in der Straße. Aber zumindest reihte es sich in die gewohnte Bauweise mit ein. Richtig alte Gebäude konnte ich nicht erkennen. Aber kein Wunder bei der Geschichte dieser Stadt. Der aufkommende Wind war zu kalt, daher lief ich wieder zurück.
Oben im Zimmer breitete ich meine neu gekauften Kleidungsstücke auf dem Bett aus. Ich hatte nicht viel Zeit gehabt. Daher hatte ich das Meiste in Online-Shops eingekauft, in der Hoffnung, dass die Größenangaben mit meiner Größe übereinstimmten. Ich öffnete die Originalverpackungen und entfernte die Preisschilder. Umtauschen könnte ich diese Sachen nicht mehr. Ich würde erst in drei Monaten zurück sein. Sie mussten einfach passen. Die dicke Daunenjacke fand ich etwas übertrieben. Als ich sie überzog, konnte ich mich aber doch erstaunlich gut damit bewegen. Die vielen Knöpfe führten zu unglaublich vielen Taschen unterschiedlicher Größe und Formen. Ideal für Gesteinsproben, Pinguinfedern oder Filmrollen.
Ich war hier am Ende der Welt, am südlichen Ende, also im Sommer. Der beginnende Tag versprach sonnig und warm zu werden. Ungläubig betrachtete ich mich im Spiegel mit meiner Polarausrüstung. Dann legte ich alles zur Seite, suchte meine Kamera sowie ein passendes Objektiv heraus und verließ das Hotel.
Richtig viel zu sehen gab es nicht, so mein erster Eindruck. Die Stadt lebte mehr von dem rauen Hinterland. Auf der einen Seite konnte man immer wieder in den Straßenfluchten das Meer sehen, auf der anderen Seite überragten die schneebedeckten Gipfel die Stadt. Der Hafen ist oft der Ausgangspunkt für Polarausflüge. So ja nun auch für mich. Da ich schon auf dem Weg war, besuchte ich natürlich auch das antarktische Museum von Ushuaia. Dort traf ich auf die Touristen. Wobei Tourist vielleicht nicht der richtige Ausdruck war. Es waren meist Individualreisende, die ihre Rucksäcke im Eingangsbereich abgelegt hatten. Der Museumswärter erzählte mir, dass auch Kreuzfahrtschiffe hier einen Stopp auf dem Weg in die Antarktis einlegen. Dann wäre das Museum fast überfüllt. Der ältere Mann schmunzelte, als er erzählte, dass er dann oft vor dem Walskelett draußen für ein Foto posieren müsse. Sein feines Lächeln passte nicht zu seiner Uniform und dem Gebäude. Denn das Museum war in dem ehemaligen Gefängnis Presidio untergebracht. Aus Rücksicht auf das historische Gebäude war die ursprüngliche Art der Nutzung noch sehr gut zu erkennen. Langsam patrouillierten die anderen uniformierten Museumswärter durch die nach oben hin offenen Gänge. Der ältere Mann dagegen hatte offensichtlich seinen Platz in der Eingangshalle. Hier goss er sich vorsichtig einen Tee aus seiner verbeulten Thermoskanne ein und fragte mich, ob ich noch weiter in den Nationalpark reisen würde. Es roch nach Mate und die Seevögel kreischten vor dem Gebäude im Wind.
In der Halle sechzehn stieß ich auf altvertraute Bilder der tragischen Shackleton Expedition von 1914, hier nahezu in der Originalumgebung. Die eigentliche Mission scheiterte damals, sogar schon relativ früh. Aber dennoch war dies eine Expedition, die zu großem Ruhm führte. Statt der erhofften wissenschaftlichen Erkenntnisse brachte Shackleton alle Expeditionsmitglieder nahezu unversehrt wieder nach Hause. Welche Strapazen sie dabei durchmachen mussten, hatte der Fotograf Frank Hurley trotz beschränkter Mittel eindrucksvoll festgehalten. Eisberge mit Schlittenhunden, Eisberge mit Seeleuten, Eisberge mit dem sinkenden Schiff, Eisberge mit Rettungsbooten. Meine jüngste Vergangenheit zeigte ähnliche Verläufe. Auch wenn Eisberge bisher keine Rolle in meinem Leben gespielt hatten. Schiffbruch, vielleicht. Glückliche Heimkehr?
Überrascht war ich, als ich auf zwei Deutsche stieß, die von Alaska aus mit dem Fahrrad bis nach Feuerland gefahren waren und hier ihre Ziellinie überquerten. Hut ab, eindrucksvolle Leistung. Wir verabredeten uns für das Mittagessen bei einem Imbiss in der Stadt. Sie beschrieben mir den Weg und verließen dann das Museum. Ich hielt mich noch eine Weile in historischer Umgebung auf.
Der Tag verging schnell. Wobei der ungewohnt späte Sonnenuntergang mich etwas irritierte. Insgesamt ähnlich wie in Kiel an der Ostsee im Sommer, liegen doch beide Orte fast auf dem gleichen Breitenkreis, nördlich und südlich. Ich packte schon am Abend meine ganzen Sachen wieder ein, obwohl ich nicht besonders früh das Hotel verlassen müsste.
Dadurch, dass ich noch ein paar Stunden Schlaf nachholen musste, war ich etwas später dran und diesmal nicht der einzige Gast im Frühstücksraum. Gedämpfte Stimmen und verhaltenes Klingen von Kaffeetassen beim Umrühren. Die Gäste sahen überwiegend nach Touristen aus. Europäisch vielleicht. Die gesprochenen Sprachen konnte ich nicht verstehen. Tangomusik. Auf das morgendliche Schauspiel des Sonnenaufgangs musste ich am zweiten Tag in Ushuaia verzichten. Dichte Wolken waren aufgezogen. Es war sehr windig. Beim Kaffee riss die Wolkendecke kurz auf und ließ dramatisch die Sonnenstrahlen vereinzelt schneebedeckte Gipfel treffen. Der Reihe nach flammten sie auf. Meine Kamera leider im Koffer, oben im Zimmer. Feuerland hatte ja seinen Namen dem Herdfeuer von den Indianern auf deren Booten zu verdanken. Aber auch dieser Anblick deutete stark in diese Richtung.
Ich müsste meine Eltern anrufen, ging es mir durch den Kopf. Wegen der etwas überstürzten Abreise aus Kiel hatte ich vergessen, ihnen zumindest anzudeuten, dass es leichte Änderungen in meinem Lebenslauf gab. Änderungen, die mir wieder Luft zum Atmen ließen. Aber ich hatte Zweifel, ob meine Eltern mein freudiges Bauchgefühl teilen würden. Wie sollte ich es ihnen erklären? Meine Vorfreude auf das Telefonat war nicht so groß. Zumindest sollte ich mal andeuten, dass ich in der nächsten Zeit etwas schwerer zu erreichen wäre. Aber später, wegen der Zeitverschiebung. Oder früher? Nach dem zweiten Kaffee packte ich meine Sachen zusammen, zog mir die Daunenjacke über und verließ das Hotel.
Meine Tasche war wirklich schwer. Ich steuerte direkt den Hafen an. Der bestand im Wesentlichen aus einer langen Pier, die fast senkrecht von der Uferstraße aus in den Beagle-Kanal hinaus ragte. Der Beagle-Kanal ist einer der unzähligen Wasserstraßen zwischen den Inseln. Für jeden Kapitän bestimmt eine Herausforderung. Am Pier war genug Platz für einige größere Schiffe. Ich hatte keine Ahnung, wo mein Schiff festmachen würde. Ich suchte einem Unterstand, denn der Himmel zog sich bedrohlich zu. Draußen in der Bucht waren Schaumkronen zu sehen. Windstärke sechs würde ich sagen, obwohl ich mir nicht sicher war, ob die Kieler Bedingungen auch hier gelten würden. Zumal überall dunkle Berge zu sehen waren, viele mit einer Schneekuppe. Der offene Ozean war erst dahinter. Ein paar Möwen jagten kreischend über meinen Kopf dahin. Kalt. Salzgeruch. Am Anfang der Pier lagen einige kleinere Passagierschiffe, Doppelrumpfschiffe, vielleicht Fähren, die zwischen all den Inseln verkehrten. Passagiere waren allerdings nicht zu sehen. War jetzt Nebensaison? An Land waren einige Lagerhallen und kleinere Gebäude. Dort würde ich mich bei einem Regenguss in Sicherheit bringen können. Der ganze Hafenbereich machte einen etwas unbenutzten Eindruck, frisch gefegt. An einer blauen Wellblechwand ließ ich mein Gepäck von der Schulter gleiten. Leichte kreisende Bewegungen vertrieben den Schmerz. Ich entdeckte nahe den Fährschiffen einen Imbiss und schlenderte hinüber. Kein Schiff in der Bucht. Weil ich nichts anderes zu tun hatte und das Kleingeld in meiner Hosentasche weiter reduzieren wollte, nahm ich einen Kaffee im Pappbecher und ging wieder zurück zu meinem Gepäck. Der Kaffee war heiß und während der zweiten Hälfte des kurzen Weges verbrannte ich mir vier Finger an zwei Händen.
Ich setzte mich auf meine Tasche und lehnte mich an das blaue Wellblech. Die Sonne kam heraus und wärmte mein Gesicht. Leuchtende Reflexionen brannten auf den Innenseiten meiner Lider. Ich hatte Katja versprochen, mich zu melden, wenn ich das Schiff erreicht hätte. Gibt es etwas Schöneres, als mit einem Becher heißen Kaffee an einem Hafenbecken in der Fremde an einer von der Sonne erwärmten Wellblechwand zu sitzen? Ruhe. In Fuhlsbüttel hatte ich noch laufen müssen, um die Boardingzeiten meines Flugzeuges nicht zu verpassen. Mein Mitbewohner hatte mich zum Flugplatz gefahren. Etwas zu spät waren wir losgekommen, typisch für ihn. Er hatte sich bei einem Kumpel einen Wagen ausgeliehen. Irgendwo gab es Probleme bei der