Der Augenleser. Carsten Wolff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carsten Wolff
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742780041
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Zugang in die Kleidung gefunden hatte, sofort unter der Restwärme des Körpers schmolz und entsprechend als Wasser den Körper hinabrann wie kleine Rinnsale , die in mir das Gefühl des Festklebens erweckten, schlug mir hingegen der Schnee direkt ins Gesicht, konnte ich mit einer Hand die Schicht abwischen, was aber in den Nacken geweht war, rann hinunter und erzeugte Schüttelfrost, jedenfalls stand ich unter dem Dachüberhang, fest gepresst an die Holzwand, die Skier an den Füßen und verdreht zum Körper, um zumindest ab und zu nicht den peitschenden Böen ausgesetzt zu sein, und gleichzeitig mit der Hoffnung versehen, dass das Wetter sich baldmöglichst zum Besseren hin ändern müsste, wohingegen meine Gedanken sich innerhalb der Hütte aufhielten, dort, wo es windstill und auch die Temperatur um mehrere Grade höher als draußen war, wobei ich mir ständig einredete, dass sich schon bald dieses Extremum zu einem lauen Lüftchen oder sogar Sonnenschein entwickeln müsste, jedenfalls klangen mir noch aus dem Munde eines erfahrenen Bergmannes die Worte in den Ohren, dass sich zumeist das Wetter zum Nachmittag hin günstig entwickelte, und mir damit ein Zeitfenster von einer Stunde bieten würde, bis dann schlagartig die Dunkelheit einsetzte, welche keine Chance mehr auf ein Fortkommen von hier oben bot und jeder Versuch des Weiterlaufens sich schnell zu einer tödlichen Gefahr entwickeln musste, so konnte augenblicklich ich nur hoffen, denn es war erst früher Nachmittag und bis zum Sonnenuntergang noch genügend verbleibende Zeit bis zur Abfahrt, und so presste ich mich einmal links, dann nach einer gewissen Zeit zur anderen Seite, wobei ich einen Zahlrhythmus des Wendens erdachte, indem ich langsam bis einhundert zählte, um mich umzudrehen, welches mir zwar Mühe und dennoch eine gewisse Freude bereitete, da sich daraus ein zeitüberbrückendes Spiel entwickelte, welches, wie man es häufig in Filmen von Gefängnissen her kennt, in denen die Einsitzenden für jeden Tag, den sie hinter Gittern verbringen, einen Strich beziehungsweise eine Kerbe auf die Wand malten oder kratzten, um sich bildhaft einen Überblick über die Dauer ihrer Tage zu verschaffen, so zählte ich jetzt ruhig bis einhundert, anschließend mit dem Handschuh eine Furche in den Schnee grub, mich umdrehte, um nach weiteren einhundert Zahlen die nächste Furche zu ziehen, um nach vier Kerben eine Querkerbe zu drücken, sodass ein sogenanntes Fünfermuster entstand, von dem sehr eng dazu das weitere Muster stand, und sich mittlerweile über eine gewisse Fläche verteilten, alles um mich herum schien zu wachsen, und was sehr wichtig war, die geschützt durch meinen Körper nicht sofort wieder verweht oder verflockt werden konnten, und obgleich es mir anfangs keine Mühe bereitete, wurden jetzt meine Augenlider schwerer und bereiteten mir großen Ärger, diese beständig offen zu halten, was einerseits sowieso nur dann möglich war, wenn mein Gesicht nicht im Wind und eben abgewandt stand, wo hinzukam, dass ich mittlerweile ein Abkühlen der Beine, einmal das rechte, dann das linke, begleitet von einem kaum zu beherrschenden Zucken der Muskeln, die durch die Anstrengung entweder durch die Belastung des eigenen Gewichts oder nur durch Kraftlosigkeit dem Widerstand nachgeben, gegen die ich mich sofort wehren wollte und auch wehrte, so gut es mir möglich war, dabei streng diszipliniert der Zählung weiter nachging, obgleich ich sehr wohl um die Gefahr wusste, sollte aus diesem kurzen zucken ein Einknicken werden, welches leicht zu einem Fallen mit anschließenden Rollen führen würde, und ich zu einer starren Eisfigur würde, ich unerbittlich gegen diese Schwäche ankämpfte, sodass ich mich augenblicklich entschloss, nach jedem Fünfergrüppchen, mehrere Hüpfer mit den Füßen auszuführen, um gegen die zu erwartende Starre anzukämpfen, wohingegen ich, egal zu welcher Seite ich mich wendete, dass Wetter nach einer Besserung aussah, es war offensichtlich eher ein frommer Wunsch, denn ich konnte höchstens einige Meter weit sehen, wenn überhaupt, denn das Gefühl der Entfernung war mir bereits entglitten, indem ich mir gedanklich ausmalte, wie schön es wäre, würde plötzlich wie aus dem Nichts heraus, eine Himmelsleiter auftauchen, daraus eine Hand zum Vorschein kommen, die mich ergreifen würde und mich zur Rettung in die Höhe ziehen würde, woraus sich gedanklich ein Gefühl entwickelte, dass mir nicht nur warm uns Herz und Körper würde, sondern auch die stetig fallenden Schneeflocken zu einem wohlschmeckenden, heißen Tee gewandelt hätten, ja, so leckte ich augenblicklich meine stark verkrusteten und kaum mehr beweglichen Lippen, und diese erschienen mir sehr weich und dehnbar, währenddessen die heiße Flüssigkeit durch meine Kehle zum Magen hin rann, wobei mir gleichzeitig klar sein musste, dass bereits eine Wahrnehmungstrübung eingesetzt haben musste, meine Sinne mir einen Streich oder sogar verrücktspielten, denn mit Vernunft oder vernünftigen Gedanken konnten diese Empfindungen nichts mehr zu tun haben, sondern nur mit Einbildungen oder Wunschvorstellungen ausgeartet sein konnten, wie bei einem Fieberkranken mit Halluzinationen versehen, die mir den Übergang in das Jenseits versüßen sollten, jedoch ich noch nicht für den Übergang bereit war und mich mit schwacher Gegenwehr Widerstand zu leisten vermochte, indem ich mir über diese lauernde Todesgefahr bewusst war, entwickelte sich ein Lebensfunke wie eine göttliche Eingebung in mir ab, noch nicht der verderblichen Süße des Schattenreiches zu ergeben, und solange ich diese winzigen göttlichen Kern in mir spürte, sagte ich mir, dagegen anzukämpfen, solange dieser Funke in mir glüht, denn es besteht immer eine Chance, dieser Hölle zu entrinnen, jedoch nunmehr auch dieser glimmende Funke langsam zu flackern begann, sodass sich meine heimlichen Wunschvorstellungen nunmehr in ein Taumeln und Benommen sein wandelten, mein Körper sich dem Verhalten eines Volltrunkenen annäherte, und unweigerlich zu einem Fall steigern musste, ich dabei jeden bürgerlichen Anstand vermissen ließ, indem ich mich wie unter der Wirkung einer Droge vollends ausgesetzt fühlte, hilflos, beinahe ohne Reaktionsfähigkeit, tödlich treibend dem Ende zu, sich noch diesen Gedanken, wo bereits alles hoffnungslos erschien, nach Ethik zu widmen, oder sich besser dieser Ethik zu entledigen?, sich langsam zu einem animalischen Verhaltens des Ergebens statt Erhebens zu entschließen, also der Versuchung vollends nachzugeben, welches triebgesteuert nachgibt, weil es sich nicht dieser Logik der Moral verpflichtet fühlt, weil es noch nicht dieser Entwicklung zur Tradition verhaftet ist, sondern lustgesteuert zu einer Süßigkeit, einem Apfel, greift, ohne sich über das Erwachsenseins des „so verhält man sich nicht!“ lachend hinwegsetzt, möglicherweise höchstens einen Augenblick denkt, „damit habe ich als Erwachsender zu tun, aber eben als Kind nicht!“, und unter diesem Eindruck sich mittlerweile die Umgebung schwankend aufzulösen schien, das Dach des Hauses in eine Schräglage versetzte, dann wiederum einen anderen entgegengesetzten Winkel einschlug und auch der Boden wie bei einem Erdbeben ins Wanken geriet, ich meine Arme und Beine ausgleichend in die jeweils entgegengesetzte Richten drückte, um eben diese Bewegungen auszugleichen wie ein Mann, der auf einem stark kränkenden Schiff steht, wobei mir jetzt plötzlich ein Gedanke in den Kopf schlug, eine kleine Metallflasche mit Schnaps als kleinen Aufwärmer bei mir zu haben, als wärmenden Geist für alle Fälle, diesen augenblicklich mit meinen starrgefrorenen

       Fingern aus einer Skianzugtasche zu fingern, und tatsächlich nach einigen Tasten auch fündig zu werden, mir unverzüglich sogar Vorwürfe machte, diesen wärmenden Alkoholschluck vergessen haben zu können, der mir sicherlich sofort nach Genuss neue Lebenskräfte einhauchen würde und mir möglicherweise sogar eine Weiterfahrt in das lebensrettende Tal gestatten sollte, auf jeden Fall einen Aufschub verursachte, welches ich jetzt voller Freude tatsächlich ertastete, aus der Brusttasche vorsichtig hervorzauberte, um es im nächsten Augenblick durch die Starre der Finger aus der Hand entgleiten zu lassen und vor mir in den Schnee fiel, jedoch dort nicht unsichtbar wurde, sondern metallisch glänzend seine Anwesenheit zeigte, ich mich hastig und gierig auf dieses Fläschchen stürzte, es ergriff und dann mit den klammen Fingern den Klappverschluss zu lösen, um bereits im nächsten Augenblick den gesamten Inhalt in einem Zug hinunterstürzte, jedoch sich die erhoffte Wirkung genau in das Gegenteil verkehrte, indem die Wirkung des Alkohols mit einer unerbittlichen Wucht zuschlug und mich betäubte, anstatt die erhofften Leibeskräfte zu bringen, meine Beine nun auf Schlag nachgaben und sich meine bislang aufrecht erhaltene Steifheit sich langsam in einen sich stetig verkleinernden spitzen Winkel veränderte, bis die Ober- und Unterschenkel aufeinander lagen und mein Hintern im Schnee zum Sitzen geriet, wobei in meiner taumelnden Verwirrung mein Blick zu Himmel gerichtet, sich dieser augenblicklich öffnete, Sterne in voller Pracht zu Vorschein gerieten, einzeln und in Gruppen mir zublinzelnden und in meine nicht einmal mehr halboffenen Augen schmerzhaft drängten, während mein Kopf und Herz so heftig schlugen, so als wollten sie sich aus dem Körper stürzen, um allein in dieser weißen Wildnis augenblicklich ihr Dasein zu begründen, doch plötzlich wie auch unerwartet bemerkte ich, dass dieses angebliche Sternblinzeln vereinzelte Sonnenstrahlen waren, und die wie kleine Lanzen auf mich einstachen, und gleichzeitig auch der dichte Horizont sich