Bevor ein Passagier die Gleise erreicht, befindet er sich in einer kleinen Vorhalle. Dort sind zwei Automaten für den Verkauf von Fahrscheinen in die Wand eingesetzt. Auch heute, wie eigentlich immer, stauen sich die Passagiere in einer Schlange davor. Wer kann auch solche Apparate bedienen? Ich jedenfalls habe damit so meine Probleme wie viele andere offensichtlich auch. Zwar hat der HVV (Hamburger Verkehrsverbund) elektronisch mit Software in den letzten Jahren aufgerüstet, zufriedenstellend ist das Ergebnis dennoch nicht, wie ich augenblicklich leicht an der unsicheren Handhabung wie auch Gestik erkennen kann. Ganz ehrlich: Wer kennt sich als Ausländer mit Tarifbereichen und Tarifen aus? Also ich bin kaum imstande, solche Entscheidungen kostengünstig zu treffen, obgleich ich Hamburger bin. Ich kaufe dann immer zu teuer ein, um sicherzugehen, wie ich später bei einer Kontrolle erfahre. Und dass dort eine Person zur Hilfe abgestellt ist, habe ich noch nie gesehen und nie davon gehört. Irgendwie und wann kommen dann noch Alle zu Fahrkarten und laufen anschließend zu der bereitstehenden U-Bahn, die Richtung Hauptbahnhof fährt. So oder so fahren sämtliche Bahnen über den Hauptbahnhof, was vermutlich auch treffend den Namen erklärt.
Noch eine Bemerkung zu den Rolltreppen, die vom Bahnsteig zu der Flughalle führen. Ich habe mich lange Zeit gewundert, warum vor den Fahrtreppen Pfosten angebracht sind? Häufig genug habe ich mich auch darüber geärgert, weil ich wieder einmal mit meinem Rollkoffer dagegen gestoßen und hängen geblieben bin, wenn ich sozusagen nicht richtig gezielt habe. Die Erklärung: Für die Gepäcktransportwagen, die im Flughafen bereitstehen und auch gern genutzt werden, bedeuten diese Pfosten eine Sperre! Seltsame Logik! Deutsche Logik! Erklären sie das einem Rollstuhlfahrer oder einer Mutter mit Kinderwagen, die verzweifelt nach Hilfe um sich blicken, wenn der Bahnhof nicht behindertengerecht ausgebaut ist! Aber im Erklären sind wir Deutschen hervorragend aufgestellt.
*
Auf dem Rückweg zu meinem Stammplatz werde ich von einem kleinen Mädchen, geschätzt etwa sechs Jahre alt, angesprochen, die sich offensichtlich von der Mutter zuvor losgerissen hat.
»Kannst Du mir Bonbons kaufen?«, fragt mich die Kleine unbesorgt.
»Ich beuge mich zu ihr hinunter, betrachte das Mädchen näher, schaue mich irritiert nach einem Angehörigen um, den ich noch nicht entdeckt habe, und sage:
»Na klar, kann ich das! Bezweifelst Du es?«
Nun ist die Kleine irritiert, vermutlich hatte sie sich ein „Ja“ erwünscht, und schaut sich auch nach wem auch immer um und fängt laut zu schreien an. Von irgendwo stürmt eine etwa vierzigjährige Frau auf uns los, blickt mich wütend an und reißt das Mädchen ein Stück von mir weg und kräht mich drohend an:
»Haben Sie Ihr etwas angetan, Sie, Sie….!«
Plötzlich bin ich sprachlos, erstarre und kann nur verneinend mit dem Kopf schütteln, was der Mutter offensichtlich nicht genügt. Sofort geht es wieder mit einem Vorwurf weiter.
»Sie, Sie…..! Man sollte die Polizei holen!«
Da war das Wort gefallen: Polizei! Sofort drehen sich etliche weitere Leute zu uns um, bleiben stehen und stieren mich an. Und postwendend beginnt eine Nachfragerei und Diskussion. Ein Herr zu mir (zu allen).
»Holt jemand die Polizei! Ich halte so lange diesen Mann fest!«
Gleichzeitig will er seine Androhung wahr machen und greift nach meinem Arm. Ich zische ihn an:
»Fassen Sie mich nicht an, sonst….!«
»Der will mich schlagen!«, schreit er sofort in die Menge. Sogleich wollen andere Hände den Versuch starten, zuzugreifen. Doch meine wild fuchtelnden Augen signalisieren offensichtlich Gefahr, sodass es nur bei diesem Versuch bleibt. Dennoch befinde ich mich umringt in einem geschlossenen Kreis von Personen. „Ja, ich bin ein Schwerverbrecher, Kinderschänder und nun lyncht mich oder werft mich den Krokodilen vor. So denkt und giert ihr doch alle!“
Ein anderer: »Da kommt ja die Polizei! Endlich!«
Und tatsächlich, wie ich aus dem Augenwinkel sehen kann, kommen jetzt zwei Polizisten, eine Frau und ein Mann, beschleunigt auf uns zugelaufen. Beide sind Angst einflößend mit Maschinenpistolen ausgerüstet.
Wieder schreit einer.
»Der da ist gefährlich!«, und er deutet mit dem Finger auf mich und fügt weiter an.
»Der ist bestimmt auf Droge!«
Nun ist bereits das zweite Zauberwort gefallen: erst Polizei und nun Droge! Und schon bahnen sich die Beamten eine Gasse durch die Menge. Bevor sie bei mir sind, höre ich noch von irgendwoher: „Lasst mich durch!“ oder „Ich will auch was sehen!“, „Was ist denn hier los?“, „Den kenne ich doch!“, „Bestimmt ein Terrorist!“ und ich weiß nicht, was da noch alles an Beschuldigungen und Vorurteilen in den nächsten Sekunden auf mich einprasselt. Hatte ich eben noch Bedenken gegen die Polizei, bin ich mittlerweile froh, dass die Beamten gekommen sind. Obgleich sich die Beamten vor mir und weiteren Umstehenden drohend aufbauen und sofort wissen wollen. »Was ist denn hier los?«
Und da die Frage allgemein und nicht nur an mich gerichtet ist, sprechen wieder etliche durcheinander, weshalb kein Wort mehr zu verstehen ist. Das reicht dann auch den Polizisten, die sich an mich wenden:
»Was geht hier vor?«
»Ich weiß es nicht!«, sage ich mit wiedergefundener, kräftiger Stimme und weiter: »Ein kleines Mädchen wollte….«, weiter komme ich nicht, denn wieder schreit einer dazwischen:
»Der wollte sie bestimmt entführen!«, worauf sich die Polizistin an den Schreier wendet:
»Können Sie das bezeugen?«
Schnell wendet sich der Mann ab. Sofort ergreift der Kollege das Wort:
»Wer nichts gesehen hat, geht bitte weiter. Wer aber etwas zu sagen hat, tritt bitte vor!«
Allgemeines Schweigen, dann lösen sich ein paar Figuren aus dem Auflauf und gehen weg. Die Glotzer bleiben weiterhin stehen. Die Polizistin wendet sich mir zu. »Wie war das mit dem kleinen Mädchen? Und wo ist eigentlich das kleine Mädchen?«, worauf sich die Verbliebenen umdrehen, sich gegenseitig anschauen und auch ich nur mit den Achseln zucken kann. Die Kleine mit ihrer Mutter hat bereits schon lange den sogenannten Tatort verlassen. Jedenfalls stehen nur Erwachsene um uns herum. Daraufhin geht eigentlich alles sehr schnell. Der Mann, der mich festhalten wollte, hat auch bereits das Weite gesucht. Und da kein weiteres Geschrei ertönt, stehe ich nur noch mit den beiden Polizisten allein in der Halle. Ich erkläre ihnen, was sich zugetragen hat, muss dennoch meinen Ausweis zeigen und kurz darauf verabschieden wir drei uns freundlich voneinander. Puuuuuh, das ist nochmal gut gegangen und willkommen in der deutschen Gründlichkeit!
Mit dieser Störung geht der Tag zu Ende, und wie man sich denken kann, bin ich nicht mehr zu meinem angestammten Platz zurückgelaufen, sondern zum Parkplatz, auf dem mein Auto steht. Für diesen Tag ist mein Wissensdurst jedenfalls bestens gestillt worden.
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Eine schicksalhafte Telefonnummer
Ein paar Tage später.