„Ich weiß, was ihr Früchtchen in eurem Alter schon für perverse Gedanken im Kopf habt!“ hatte der Onkel damals immer gesagt.
Dann verlief es irgendwie im Sand. Der Onkel hatte sich dann im Jahre 1961 eine Villa in Kronberg gekauft. Sie erinnerte sich, dass sich die Eltern immer gefragt hatten, woher er das Geld habe, denn auch ein Richter verdiene nicht so viel, um sich eine Villa leisten zu können. Eckhard starb vier Jahre später an einem Herzinfarkt. Klara lehnte sich zurück und schüttelte den Kopf. Jetzt erst schien das Verhalten von Sarah irgendwie in diesem Zusammenhang erklärbar, wenn dieses Schwein auch an Sarah war.
Sie schlug das Tagebuch zu und suchte weiter nach einem Brief.
Aber ihre Gedanken machten wieder einen Sprung ins Jahr 1961, dem Todesjahr ihrer Schwester. Erinnerungen tauchten auf, die mit ihren Gefühlen zu tun hatten, mit jenen Gefühlen, die ein Mädchen in ihrem Alter damals noch gar nicht haben durfte, Liebesgefühle. Die Blue Diamonds sangen >Ramona< und Nana Mouskouri >Weiße Rosen aus Athen<, Sarahs Lieblingssong. Und auch an den Bau der Berliner Mauer erinnerte sich Klara plötzlich.
Dann gab sie das Tagebuch Paul zum Lesen.
5.
Es geschah unerwartet.
Es war Montag, der 20.Oktober um 22.10. Uhr.
Er hatte seine üblichen Einleitungsworte gesprochen: „Ich begrüße euch, heute ist Montag, der zwanzigste Oktober neunzehnhundertachtzig. Ich bitte um Kontakt. Ich begrüße Esther; vielleicht kann ich einen Verwandten von mir sprechen.“
Paul saß vor seinem Tonbandgerät. Konzentriert lauschte er in die Kopfhörer.
Klara hatte sich hingelegt, weil sie sich nicht wohl fühlte.
Auf dem Strommast draußen saßen nebeneinander ungefähr zweihundert schwarze Krähen. Die Tiere schienen alle in sein Fenster zu schauen. Einige putzten sich, andere wedelten mit ihren Flügeln, aber die meisten schienen sich nicht zu bewegen.
Er sah sie durch das Licht der Straßenlaternen.
Eine Tasse kalt gewordener Tee stand links auf seinem großen Schreibtisch.
Ein paar weiße Wolkenfetzen, bestrahlt vom hellen Vollmond, zogen lautlos vorbei. Im ganzen Haus war es still.
Die Stimme kam aus einer endlosen Weite und war doch so nah, als wäre die Person im selben Zimmer. Er hörte die zwei Worte: >Mörder - Huckepack <.
Paul erschrak, zuckte zusammen, riss den Kopfhörer herunter und stand blitzschnell vom Stuhl auf.
Im selben Moment spürte er einen Schmerz im Rücken, als bohre im jemand ein glühendes Eisen tief in die Haut.
Mit der linken Hand warf er die Teetasse um.
Er stand da und starrte auf die sich drehenden Spulen.
Das Adrenalin raste durch seine Adern.
Sein Herz hämmerte gegen den Brustkorb.
Die rechte Hand fuhr nach hinten zu seinem Rücken.
Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er das Band abstoppte.
Dann setzte er sich wieder auf den Stuhl, atmete hastig. Der kalte Tee bildete eine Pfütze neben seinem Notizbuch. Allmählich normalisierten sich seine Körperfunktionen wieder. Er drehte sich zur Türe um, als habe er ein Geräusch vom Flur her gehört; aber dort war nichts. Aus der Küche kam das gleichmäßige Ticken der Uhr. Aus dem Wohnzimmer kamen keine Geräusche.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Dann spulte er das Band zurück. An der vermuteten Bandlaufstelle stoppte er es ab. Bevor er die Stimmen erneut abhörte, stand er auf und ging ins Klo, um zu pinkeln. Der Schock war ihm auch auf die Blase geschlagen. Aus der Küche holte er ein Wischtuch für den verschütteten Tee. Dann ging er zurück ins Arbeitszimmer, trocknete die Tischplatte ab. Der Schmerz im Rücken war weg. Er setzte seine Kopfhörer wieder auf, nahm seinen Kugelschreiber.
Bevor er auf die Repetier-Taste drückte, holte er erst einmal tief Atem. Er hatte schon seltsame Stimmen gehört, aber so etwas wie eben noch nie. Dann ließ er das Band wieder laufen. Nach zirka 20 Sekunden war sie wieder da: >Mörder-Huckepack<!
Sein Herzschlag beschleunigte sich wieder, der Schweiß trat erneut aus seinen Poren. Repetiertaste : >Mörder-Huckepack<. Er notierte die Bandlaufnummer und die Uhrzeit.
>Mörder-Huckepack< Repetiertaste: >Mörder-Huckepack<.
Die Stimme war schwer zu verifizieren. Es hörte sich an, als ob ein Kleinkind mit der Stimme eines erwachsenen Mannes sprach. Sie kam aus einer endlosen Weite, und war doch so nah an seinen Ohren. Ein einziger Gedanke beherrschte ihn jetzt: Was bedeutet diese Botschaft? Er schaltete das Band wieder aus, nahm die Kopfhörer herunter und lehnte sich im Stuhl zurück.
Sein Herz hämmerte noch immer, und er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Als wenn jemand im Zimmer wäre und ihm ins Ohr flüsterte: >Mörder –Huckepack.< Aber er hörte nicht nur diese Stimme, er spürte auch eine „eisige Stille“ danach.
Und dann kam die Angst. Sie kletterte von den Tiefen des Unterbewusstseins nach oben, packte ihn und schleuderte ihn in einen Abgrund von Schuldgefühlen. Er konnte momentan nichts, aber auch gar nichts mit dem Inhalt dieser Botschaft anfangen. Er konnte analysieren und überlegen, er konnte sich erinnern und alle Versuche darüber nachzudenken schlugen fehl. Es gab Stimmen, die ihn verhöhnten, die fluchten wie Berserker, die sich über ihn lustig machten, aber das waren Ausnahmen. Wer weiß, welches Schicksal diese Menschen erlebt
haben mussten, um von dort aus so zu reagieren. Er versuchte, zunächst einmal diese Stimme in diese Kategorie einzuordnen, aber so ganz gelang es ihm nicht.
Er ging in die Küche, öffnete eine Flasche Rotwein und trank ein Glas, um seine Nerven zu beruhigen. Er machte leise, um Klara nicht zu wecken, denn er wollte auf keinen Fall, dass sie eine solche Stimme hörte. Sie war gerade auf dem besten Weg, sich ernsthaft mit den Stimmen auseinanderzusetzen. Auch wenn er selbst schockiert wurde, durfte er ihr „zartes“ Interesse dadurch nicht zurückwerfen.
So nach und nach bewirkte der Wein eine Entspannung. Er lehnte sich im Stuhl zurück und betrachtete seine Notizen.
In den Jahren des Experimentierens hatte er sein Ohr geschult. Der phonetische Klang einer Stimme prägte sich in sein Gedächtnis ein und sein Bewusstsein assoziierte diesen Klang mit einem bestimmten Menschentyp. Er konnte unterscheiden, ob hinter dem Timbre ein sachlicher oder gefühlvoller, sicherer oder unsicherer, ängstlicher oder freudiger, erotischer oder platonischer Mensch war. Aber diese Stimme jetzt war, als wenn ein Baby (vielleicht das Baby, von dem er träumte) mit der Stimme eines erwachsenen Mannes sprach. Und der Hass, der in der Stimme lag, entsetzte ihn.
Er legte eine Kassette in den Rekorder und hörte Orff`s Carmina Burana.
Und plötzlich fiel ihm ein, dass er die Nacht vorher wieder einmal diesen bescheuerten Traum hatte: er sah wieder das tote Babygesicht, das plötzlich die Augen öffnete und sich zur hässlichen Fratze verwandelte, der Traum dauerte nach seinem Empfinden nur ein paar Sekunden.
6.
Zwei Tage später klingelte in seinem Büro in Frankfurt um neun Uhr morgens das Telefon. Er war gerade dabei, seine Lieferantenrechnungen zu bezahlen. Auf seinem Schreibtisch stand eine Kanne Earl Grey, daneben ein Teller mit einem Sandwich. Unten im Laden war noch nicht viel los, ein paar Kunden, die ihre Tasse Tee tranken, sonst nichts. Der Ansturm würde erst gegen elf Uhr anfangen.
Es meldete sich ein Mann, der Stimme nach zu schätzen war er vielleicht Ende Vierzig. „Guten Tag, Herr Klein.“
„Guten Tag.“
„Kann