Dann sackte der Mann in sich zusammen. Klara sprang auf. „Hallo, Herr Holänder…hallo!“ Sie schüttelte ihn an den Schultern, nahm sein Kinn und hob seinen Kopf hoch. Dann endlich öffnete er den Mund. „Entschuldigung, bitte entschuldigen Sie… du meine Güte, oh mein Gott..,“ stammelte er. Paul war auch aufgestanden und holte aus der Küche ein Glas Wasser. Holänder trank es. „Es geht, vielen Dank, es geht….“ Er setzte sich wieder aufrecht hin.
„Was war es,“ fragte Klara.
Nach ein paar Minuten sagte er, dass es seine Frau war, dass es Ute war.
„Sie ist es. Sie ist es. Ich erkenne sie an dieser Stimme, das gibt es nicht, das ist…
unvorstellbar….“
Klara schenkte ihm noch eine Tasse Tee ein. Er trank sie, setzte die Tasse ab.
„Was bedeutet <Katzenloch>?“ fragte Paul.
„Katzenloch nennen die Dänen das Kattegat, die Meerenge zwischen Jütland und Schweden.“ Er atmete tief seufzend ein und fuhr fort. „Wir hatten im letzten Jahr vor dem Tod meiner Frau dort Urlaub gemacht, auf der Insel Samsö. „…..ich kann es nicht glauben.“
Paul machte den Vorschlag, eine Pause einzulegen, das Band abzuschalten und ins Wohnzimmer zu gehen, damit der Gast den Schock verdauen konnte. Sie verließen das Arbeitszimmer. Klara kochte eine neue Kanne Tee, dazu servierte sie schottisches Butter- und englisches Ingwergebäck. Holänder sah man den Schock an. Er war kreidebleich im Gesicht und sichtlich dankbar für die Unterbrechung. Nach ein paar Minuten der Entspannung trank er einen Schluck Tee.
„Verzeihen Sie diesen Schwächeanfall, aber so etwas hatte ich nicht erwartet.“
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, das geht Vielen so, „ sagte Paul.
„Es ist immer noch unbegreiflich, was ich eben erlebt habe.“ Er nahm noch einen Schluck Tee und fuhr fort. „Es ist zwei Jahre her, dass meine Frau gestorben ist. Sie litt an Leukämie. Obwohl ich innerlich darauf vorbereitet war, war ihr Tod ein großer Schock für mich.“
Es traten ein paar schweigsame Minuten ein. Dann fuhr Holänder fort. „Wie schnell man in die Vergangenheit zurückfallen kann, es genügt nur ein Bild, eine Melodie, ein Geruch, um die Assoziation in Gang zu setzen. Aber das hier, die Stimme meiner geliebten Ute, stürzt mich tief in die Erinnerung unserer Zeit.“
Er atmete schwer. „Es ist nicht dieselbe Stimme wie die auf einem Video von uns. Wenn ich mir das Video anschaue, dann ist es ihre Stimme von damals. Aber jetzt vermitteln Sie mir den Eindruck, als sei es die Stimme von heute. So als lebe Ute noch.“
„In einer uns noch unbekannten Sphäre lebt sie, das glauben wir. Und es ist die Stimme von heute. Einer aus unserem Interessenverein hat mal gefragt, wo „sie“ seien. Und die Antwort war: >Im Raum<. Wenn wir weitermachen, könnten wir noch mehr über sie erfahren, Herr Holänder.“
„Ich muss das erst mal innerlich verarbeiten, verstehen Sie?“
„Noch was,“ sagte Paul, „das Leben zwischen den beiden Menschen im Diesseits hat eine Fortsetzung im Jenseits, das ist unsere Erkenntnis.
Konstantin Raudive schreibt auf Seite 134 seines Buches >Überleben wir den Tod?<: „ Ein Beispiel, dass die rein menschlichen Beziehungen durch den Tod nicht verloren gehen, sondern weiter bestehen und sich weiter entwickeln. Während der letzten dreißig Jahre ist der Experimentator seinem Bruder nicht begegnet. Erst nach dem Tod meldet sich Alex wieder.“
Inzwischen war es schon kurz vor elf Uhr. Holänder verabschiedete sich, dankte für die Gastfreundschaft und versprach, in Verbindung zu bleiben.
„Ja.“
Holänders Reaktion erinnerte Paul an seine eigene Reaktion vor 4 Jahren, als er das erste Mal die Stimme seines Vaters hörte. Sein Vater starb mit 51 Jahren an Magenkrebs. Paul war damals 21 Jahre alt. Als der Vater dann starb, wog er nur noch knappe fünfzig Kilo, er war praktisch verhungert.
Er stellte die Frage, wie es seinem Vater gehe. Nachdem ein gewaltiges Rauschen abgeklungen war, hörte er die typische Stimme seines Vaters: <Ich esse>. Mehr nicht. Zunächst erschrak er bis ins Mark. Seine Frage wurde beantwortet. Dann erkannte er den Sinn dieser Aussage, nämlich dass ihm sein Vater ein >Erkennungswort< gegeben hatte, das mit seinem Tod zusammenhing: <Ich esse>, weil er vorher durch den Magenkrebs kaum mehr essen konnte und daran starb. Konstantin Raudive nannte ein ähnliches Beispiel, wonach der Mensch nach dem Tod immer noch an die Gegebenheiten im diesseitigen Leben hing. Auf Seite 134 seines Buches >Überleben wir den Tod? < schreibt er: >Monika, die Tochter meines Bruders, starb 1944 als zwölfjähriges Kind an Lungenentzündung. Sie starb, als der Krieg herrschte, ohne medizinische Hilfe. Der Durst, den sie beim Sterben erlitt, beschäftigte ihre Seele auch nach dem Tode: „Die kleine Monika bittet um Wasser….“
Die Mitteilung >Ich esse< war außer der Stimme das wesentlichste Kriterium, an dem er seinen Vater erkannt hatte.
Es hatte eine Zeitlang gedauert, bis ihm bewusst wurde, dass hier wirklich und wahrhaftig sein Vater aus der anderen Dimension zu ihm gesprochen hatte.
Hier die zwölfjährige Monika, deren irdische Qual vor dem Tod der Durst war, und die diesen Durst dann artikulierte quasi als letzte Erinnerung vor dem Übergang (< die kleine Monika bittet um Wasser>)
… dort sein Vater, dessen irdische Qual vor dem Tod der Hunger war, und der ihn ebenfalls aus der jenseitigen Dimension artikulierte (<Ich esse>)
Dann kamen von seinem Vater weitere kurze Nachrichten (>Dein Vater Bernhard hier<), und immer wieder der Hinweis auf die Kraft der Gedanken (>Bernhard – Gedanken – sind –sprechen – sprechen <). Seine Mutter Luise beobachtete diese Experimente mit Ängsten und Misstrauen. Sie konnte nicht glauben, dass es ihr Mann sein sollte, dessen teils für sie zuerst unverständliche Wörter auf dem Tonband waren. Eines Abends rief Paul sie in sein Zimmer und spielte ihr die Stimme vor: > Luise – glaub – das <. Sie sah ihren Sohn an und sagte: „Eigenartig ist das schon, denn ich habe die ganze Zeit über deine Stimmen nachgedacht!“ Sein Vater schien über Paul zu wachen, denn sporadisch nahm er Bezug auf Alltäglichkeiten. Auch die Stimme seiner Mutter, die im Februar 1972 bei einem Verkehrsunfall getötet wurde, spielte er ein. Eine etwas seltsame Botschaft erreichte ihn von seiner Mutter im April 1974: >dein Bruder – Gefahr für dich<. Er fragte immer wieder nach, erhielt aber keine Reaktion mehr. Weshalb sollte sein Bruder Gustav eine Gefahr für ihn sein?
Diese Botschaft kam aber immer wieder, 1975, 1979.
Paul begann darüber nachzudenken. Es war sehr schwer, ein tief verwurzeltes Denkschema „umzukrempeln“, nämlich dass der körperliche Tod das absolute Ende des Menschen bedeutete. Und jetzt stellten er und ein Teil der forschenden Menschen fest, dass sich dieser Tote mit seiner Stimme wieder meldete, dass er „mit seiner Seele“ sprach. Dass er von seinen Erlebnissen auf der Erdendimension redete und von seinen Gefühlen, die er hatte, und vieles mehr. Diese Erkenntnis war mehr als revolutionär.
Klara räumte das Geschirr weg und wollte sich gerade fürs Bett fertig machen, da klingelte es wieder an der Haustüre. Paul ging hinaus. Dann hörte sie Holänders Stimme: „Tut mir leid, dass ich noch mal störe, aber…. kann ich noch ein paar Minuten mit Ihnen sprechen?“
Klara verdrehte die Augen, Paul zuckte mit den Schultern. Wie konnte er so ein Nervenbündel abweisen?
„Schatz, ich komme gleich …. Warte nur auf mich, ja?“ Er warf ihr eine Kusshand zu und machte mit der anderen Hand eine eindeutige Geste. „Mach schon mal die Flasche Rotwein auf…“
„Von wegen…“ Sie rauschte hinaus.
„Natürlich, kommen Sie rein.“
Holänder