»... wenigstens die grundlegenden Fragen stellen, was das Motiv für die Tat anbelangt.«
»Wie wäre es mit ein bisschen mehr Diplomatie«, brüllte Fred genervt, und Melanie brach nun ebenfalls in Tränen aus.
Als die Befragung weitergehen konnte, schniefte die Frau neben ihm im Gleichtakt mit der Frau ihm gegenüber, aber Fred schien, als hätte sein kurzes Gebrüll die Atmosphäre gereinigt.
»Was für ein Mensch war Dickie Blume? Erzählen Sie uns von ihm.«
»Er war ... ein liebenswerter Mensch. Nicht gerade ordentlich, aber auch nicht ausschließlich schlampig, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er wollte Musiker werden, Klarinettist, auch wenn er ... na ja, wenn er für meinen Geschmack wenig geübt hat. Eigentlich fast nie. Er hatte Ziele: die Berliner Symphoniker oder andere weltberühmte Orchester.« Sie kratzte sich nachdenklich hinter dem Ohr. Ihr Gesicht war vom Weinen rotfleckig. Sie trug schwarz. Bluse, Rock, Spitzenstrumpfhosen. »Seine Eltern wanderten nach Australien aus, als er fünf war, und ließen ihn bei einer Tante zurück, aber das habe ich Ihnen ja schon erzählt. Soweit ich weiß, hatte er nie wieder Kontakt zu ihnen. Ich weiß nicht mal, ob sie zur Beerdigung kommen. Ich weiß nicht mal, wann die Beerdigung stattfindet.«
Ihre Augen flossen erneut über, und Fred schob ihr stumm die angebrochene Packung Kleenex über den Tisch.
»Danke.« Sie brauchte zwei Minuten, bevor sie weiterreden konnte. »Wir haben uns im letzten Herbst kennengelernt, als ich bei Pik-As meine erste eigene Gruppe übernahm.«
»Pik-As?«, fragte Mellie und warf einen raschen Blick zu Fred. Brüllte er gleich wieder, nur weil sie versuchte, hilfreich zu sein? »Ich nehme an, Sie sprechen von einer Selbsthilfegruppe für Spielsüchtige?«
»Ja, das stimmt«, Patrizia Müller starrte sie einen Moment lang verblüfft an. »Sollten wir uns kennen? Waren Sie in einer der Gruppen?«
»Eine reine Frage der Logik. Pik-As ist eine Spielkarte, eine Gruppe ist eine Gruppe, und wenn sie Poker oder andere Spiele spielen würde, hieße sie nicht Gruppe, sondern Pokerrunde oder Spielekreis. So ähnlich jedenfalls. Gruppe assoziiert Selbsthilfe, und Selbsthilfe benötigen Menschen, die etwas im Übermaß tun, was sich negativ auf ihre Psyche und ihren Geldbeutel auswirkt. Ergo ist Pik-As eine Institution, die Spielsüchtigen eine Anlaufstelle bietet und sie in etwas wie eine Therapiegruppe integriert.«
Über lange Sekunden blieb es totenstill am Tisch. Niemand redete, niemand schniefte, aber alle, außer Mellie selbst natürlich, staunten.
»Wow«, richtete Patrizia Müller nach einer Weile das Wort an Fred. »Sie ist echt gut. Wenn ich ehrlich bin, dachte ich in der letzten halben Stunde, ich bin ... na ja, wie soll ich es ausdrücken ... nicht eben an Profis geraten, wenn Sie verstehen, was ich meine. Denn sehen Sie, eigentlich habe ich mich hauptsächlich deshalb an Sie gewendet, weil eine Ihrer Mitarbeiterinnen meinen Dickie ...«, sie schluckte und griff nach einem Kleenex »... aus dem Wasser gezogen hat. Die Polizei hat mir die Visitenkarte gezeigt, die sie vor Ort verloren hat und da ... Das ist ein Wink des Schicksals, dachte ich, und eine Frau, die einen Toten ganz allein aus der Weser zieht, ist mutig. Ich meine, es erfordert doch jede Menge Zivilcourage, eine Leiche aus dem Wasser zu ziehen. Ich hörte auch, sie habe sich dabei verletzt, aber partout nicht ins Krankenhaus gewollt. Das ist die richtige Frau für den Job, dachte ich und rief bei Ihnen an. Unser Telefonat dann war ... na ja ... nicht gerade ermutigend, wenn Sie wissen, was ich meine. Ich wurde in meiner Überzeugung schwankend, tatsächlich an der richtigen Adresse zu sein. Aber diese Kette logischer Schlussfolgerungen eben, also die überzeugt mich restlos. Außerdem sind Sie billiger als Ihre Konkurrenten«, fügte sie mit dem Anflug eines Lächelns hinzu. »Ich meine, ich hab’ nicht so viel Erspartes, und Dickie ... na ja, Sie können sich sicher denken, was ein Spielsüchtiger auf der hohen Kante hat.«
Toll, dachte Fred Roderich deprimiert. Deine Mitarbeiterinnen werden in den grünen Klee gelobt und du als Chef gehst als nicht unbedingt profimäßig mit durch. Er vernahm mit einem Mal ein zweistimmiges Raunen tief in seinem Inneren, und als er genauer hinhorchte, hörte es sich an wie eine Unterhaltung zwischen Herrn Neid und Herrn Ehrgeiz. Bloß nicht, dachte er entsetzt. Du wolltest diesen Mord nicht, und wenn deine Mitarbeiterinnen so großartig sind, bitte schön, sollen sie ihn aufklären. Du bist der Chef, du delegierst die Arbeit, und Chefs dürfen den Ruhm genießen, ohne sich die Pfoten schmutzig zu machen.
Stimmt. Du bist der Chef, dein Kopf wird rollen, wenn Alice und Melanie versagen, raunte ein drittes Stimmchen in seinem Kopf, und höhnisches Gelächter erschütterte lautlos sein Zwerchfell.
Er seufzte. »Okay, fahren wir fort. Frau von Rhoden, haben Sie weitere Fragen oder Anmerkungen?« Hatte Frau Müller eben wirklich gesagt, Alice habe eine Visitenkarte der Detektei am Tatort verloren? Du meine Güte, was wiederum nichts anderes hieß, als dass die Detektei Roderich, Hupe und von Rhoden ihre momentane Patsche seiner Großcousine Alice zu verdanken hatte. Ob ihr die Visitenkarte versehentlich aus der Tasche gefallen war oder probierte sie einfach nur neue Methoden zur Kundenanwerbung aus?
Fragen oder Anmerkungen? Sie zuckte zusammen und starrte ihn ungläubig an. Was war denn in den Fred gefahren?
»Frau von Rhoden hat mir vorhin bereits eine Frage gestellt, die ich nicht beantwortet habe«, entgegnete Patrizia Müller an ihrer Stelle und zum ersten Mal seit Beginn der Befragung wandte sie sich direkt an Mellie. »Ja, mein Dickie war ein wenig überheblich im Umgang mit anderen. Ich meine, er konnte ungemein charmant sein und die Leute zum Lachen bringen, aber wenn ihn etwas ärgerte, besser gesagt, jemand ärgerte, dann gab er keine Ruhe, bis er eine Gelegenheit fand, denjenigen bloßzustellen. Auf eine – wie soll ich sagen – nicht gerade nette Art und Weise und vor Zeugen. Vor allem Frauen, die nicht ... auf seine Reize ansprangen. Ich meine, nein, um alles in der Welt, er hat mich nie betrogen oder so, aber er war ein Mann, er arbeitete als Schauspieler, denn was anderes war sein Auftritt als Rattenfänger ja nicht. Ja, er verausgabte sich, und wenn er der Meinung war, um Anerkennung betrogen zu werden, konnte er ... unnett sein.«
»Unnett«, echote Fred monoton. Ein unnetter Spielsüchtiger, und er, Fred, sorgte sich, kein Motiv für den Mord zu finden. »Was spielte er eigentlich? Ich meine, nach welcher Art von Spielen war er süchtig? Pokern oder Canasta? Rommé? Siebzehn und vier?«
Patrizias Blick wurde hart. »Einarmige Banditen. All das, wo man oben Geld reinsteckt, und es unten klimpert, wenn drei Kirschen gleichzeitig erscheinen. Spielhallen und Kneipen, egal wo. Bei Pik-As landete er durch Auflage des Gerichts. Er hatte keinen Job, war aus seiner Wohnung geflogen und hauste in einem besseren Kellerloch, als ich ihn kennenlernte. Tagsüber saß er in der Unterführung zur Rattenfängerhalle und spielte Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus auf einer Mundharmonika, abends verspielte er das eingenommene Geld am Automaten. Alles was er besessen hatte, war im Pfandhaus gelandet, sogar seine Klarinette.«
»Und dann kamen Sie und verliebten sich in ihn. Cool!« Melanie blickte mit sehnsüchtigen Augen über den Konferenztisch. »Das Märchen vom männlichen Aschenputtel.«
»Na ja, ganz so war’s nicht«, entgegnete die Verlobte des Rattenfängers trocken. »Als er am Tiefpunkt seiner Verzweiflung angekommen war, zog er vor einem Zeitungskiosk einem Mann die Brieftasche aus der Hosentasche. Dummerweise oder, im Nachhinein gesehen, glücklicherweise, stand hinter ihm ein Polizist. Ein Kontaktbereichsbeamter, der sich Zigaretten kaufen wollte. Er kassierte Dickie und die Brieftasche ein, und die ganze Sache kam vor Gericht. Zu der Zeit war Dickie schon halb verhungert, und so sah er auch aus. Der Richter hatte Mitleid und mein Dickie kam mit einer Belehrung und der Auflage davon, ein Jahr lang bei Pik-As einen mentalen Entzug zu machen. Er bekam nicht einmal einen Eintrag im Führungszeugnis.« Sie seufzte und fischte ein weiteres Kleenex aus der Packung. »So lernten wir uns kennen. Und ...« Schluchz. »... lieben. Der Dickie und ich.«
Ach du Schande, dachte Melanie. Ein unnetter spielsüchtiger Dieb, und der soll keine Feinde haben? Wenn wir weiter nachhaken, wird sich herausstellen, dass seine Ex-Frau unerklärlicherweise im Pool ertrunken ist, und er die Frau seines Bankers geschwängert hat. Schließlich war er auf einem Schiff voller Banker ermordet