Die Tische wurden von vier jungen Mädchen abgeräumt – Azubis.
Wir gingen zur Lobby. Hannah rauchte zwei Zigaretten, das war im Frühstückssaal untersagt, und ich las die wichtigsten Artikel der „Ostsee-Zeitung“.
Wie ich es vorausgeahnt hatte, sprachen die Meteorologen vom wärmsten 21. November seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Darunter befanden sich Fotos von Menschen in Biergärten und barfüßigen Strandspaziergängern. Kein Wort von der nahenden Klimakatastrophe.
In Gedanken malte ich mir aus, wie die Ostsee wohl bei einer Eiszeit aussehen würde. Vermutlich stapelten sich dann kleine Eisschollen bis zum Horizont. Ich hatte das einmal gesehen. Im Winter ´99. Damals fuhr ich mit einer Pferdekutsche von Kloster auf Hiddensee nach Schaprode auf Rügen auf der zugefrorenen Ostsee. Das war ein atemberaubendes Erlebnis und auch ein bisschen beängstigend. Vielleicht konnte man das ja bald wieder. Das ganze Jahr über.
Vom Hotel zum Strand führte ein schmaler Pfad, der mit Holzplatten ausgelegt war. Wie üblich, wenn ich irgendwo am Meer war, warf ich flache Steine ins Wasser und hoffte, dass sie ein paar Mal über die Oberfläche hopsten. Manchmal gelang es, doch die meisten klatschten einfach ins Wasser.
Das Wasser der Ostsee war nicht besonders klar, aber das war für November normal. Am Strand suchten dicke und kleine Möwen nach Futter. Krähen versuchten den Möwen das Futter abzujagen. Vielleicht jagten sie auch die Möwen.
Ich lief den Strand entlang und dachte eigentlich an nichts. Irgendwann vergaß ich alles um mich herum. Die anderen Spaziergänger, die Steine, die Möwen, die Krähen, Hannah, ...die Zeit.
Manche Leute versetzten sich mit autogenem Training oder Meditation in Trance, andere nahmen dafür Drogen oder Psychopharmaka. Bei mir reichte ein Strandspaziergang.
Möglicherweise lag es an der frischen Luft, dem Wind, dem ruhigen Plätschern des Meeres. Jedenfalls erlebe ich oft, wenn ich allein am Strand entlang laufe, dass ich irgendwann abtauche. Es ist, als ob ich aus der Zeit herausfalle. Meistens dauert dieser Zustand nicht sehr lange und nach ein paar hundert Metern tauche ich wieder auf. Die Zeit dazwischen ist allerdings verloren.
Diesmal mussten es Stunden gewesen sein. Keine Ahnung, wie das passierte. Ich lief und lief. Es war warm, soviel stand fest. Fast so warm, wie am Novemberwärmerekordtag am Tag davor.
Erst als ein kleines Schild in mein Blickfeld geriet, schlug ich hart und erschrocken wieder in der Realität auf.
Ostseebad Ückeritz stand darauf. Ückeritz lag wie Zinnowitz auf der Insel Usedom. Aber die beiden Orte waren 14 Kilometer voneinander entfernt. Ich war 14 Kilometer gelaufen, ohne etwas davon zu bemerken. Wo war ich die ganze Zeit gewesen?
Ostseebad Ückeritz. Und dann, als würde ich mit einem Eimer Wasser übergossen, strömten die Erinnerungen über mich.
Irritiert sah ich mich um. Außer mir waren hier wenige Leute unterwegs. Kleine, sich bewegende Silhouetten. Ich blickte zum Himmel. Die Sonne schickte sich bereits an, unterzugehen. Hier und da flammten die ersten Lichter der Strandcafes und Restaurants auf.
Im Ostseebad Ückeritz hatte ich meine Unschuld verloren und den Rest meiner Kindheit. In Ückeritz hatte alles seinen Anfang genommen.
Eine tiefe Beklommenheit kam von irgendwoher und ließ mich fast zu Eis erstarren.
Eine Weile taumelte ich weiter.
Und plötzlich war ich angekommen. Es bestand absolut kein Zweifel. Ich stand genau an der Stelle, wo ich schon einmal gestanden hatte.
Sommer 1980.
Die Beine wurden mir schwer und dann die Knie weich. Ich sackte auf den Boden und meine Hände wühlten im Sand. Und dann brach es aus mir heraus. Ein Tränenstrom wie die Niagarafälle.
Ich sah uns. Acht Jugendliche, sprühend vor Lebenslust und aufgeregt und neugierig wie Welpen.
Ramona, Andreas, Silvio, Markus, Johannes und seine Schwester Christiane. Wie bei einer zärtlichen Umarmung tauchte ein Gesicht nach dem anderen auf. Und schließlich das Wichtigste: Tanja.
Wir spielten Volleyball. Markus warf sich in den Sand, verfehlte aber den Ball. Wir hockten in zusammen geschobenen Strandkörben oder tanzten lächerliche Tänze zu Kate Bush´s Babuschka oder zu Kashmir von Led Zeppelin, lachten, bewarfen uns mit Ostseesandschlamm. Wir rollten über den Sand oder rannten alle in einer Reihe an den Händen haltend ins Meer...
Wir rollten über den Sand, wir küssten uns, wir rollten über den Sand. Wir rollten über den Sand und küssten uns... Tanja! T... A... N... J... A ...
Wie betäubt, fand ich den kleinen Trampelpfad durch die Düne. Man hätte mir die Augen verbinden können, ich hätte ihn trotzdem gefunden.
Da auf dem Hügel standest du oft, um aufs Meer zu schauen. Auf dem Sandhügel auf der anderen Seite hattest du mich in die Arme genommen, als es passierte... Als ich mich vor Schmerz übergeben musste.
Jeder Flecken barg eine Erinnerung und jeder Grashalm wirkte vertraut. Als wäre ich hier niemals fortgegangen.
Ich stolperte die Düne hinauf und musste immer wieder innehalten. Das Atmen fiel mir mit jedem Schritt schwerer. Und dann wieder raste mein Herz so schnell, als wollte es gleich explodieren. Die Erinnerungen lasteten wie getrockneter Zement.
Keine Ahnung wieso, aber ich war mir jetzt auch sicher, dass ich das kleine Bungalowdorf wiederfinden würde. Ich wusste, dass es die Zeit überlebt hatte. Die Ortschaften an der Ostseeküste hatten sich in den letzten Jahren fast komplett verändert. Es wurde renoviert, gebaut und planiert. Jeder, der auch nur über einen freien Schuppen verfügte, versuchte daraus Kapital zu schlagen. Wem konnte man das auch verübeln?
Trotzdem hatte ich nicht den leisesten Zweifel, dass das kleine Bungalowdorf noch existierte.
Der Trampelpfad durch die Düne war kurz. Rechts und links vertrocknetes Dünengras. Zwei Dohlen stritten um einen Kanten Brot. Lachmöwengeschrei wehte vom Meer herüber. Der Pfad führte an einem kleinen Sendemast vorbei. Wahrscheinlich von E-Plus oder Vodaphone. Der war natürlich neu. Dann kam eine Senke, rechts ein Kiefernwäldchen.
Ich behielt recht. Alles war wie damals. Fünfzehn, zwanzig wettergegerbte lindgrüne Bungalows standen so dicht beieinander, als wollten sie wegen eines drohenden Abrisses zusammenrücken. Vor jeder Hütte standen zwei weiße Plastikstühle, ein Tisch und ein Mini-Grill. Das alles gab es 1980 noch nicht.
Sogar die Wäscheleinen waren an den gleichen Stellen zwischen den Bäumen gespannt. Einen Moment sah ich, wie meine Mutter unsere Badesachen und Handtücher aufhängte. Dann verschwand das Bild – und mir schwindelte.
Ich lief zwischen den Bungalows umher, streichelte hier eine Wand und befühlte dort den Boden. Es roch vertraut. Kann Zeit riechen?
Heute Nacht musste ich hier bleiben, dass wusste ich. Hier, in diesem schäbigen Bungalow-Dorf. Hier, wo alles seinen Anfang nahm. Ich hatte keine andere Wahl.
In wenigen Minuten würde es dunkel werden. Um den langen Weg zurück zu laufen, hatte ich keine Kraft mehr.
Hannah!
Ich suchte in meinen Taschen nach meinem Handy, bis mir einfiel, dass es vermutlich im Hotelzimmer am Ladegerät vor sich hinblinkte.
Egal! Hannah würde sich sorgen, aber ich konnte hier jetzt nicht weg. Morgen würde ich ihr alles erklären. Vielleicht konnte ich es auch nicht erklären. Sie würde eine Weile schmollen, mir vielleicht Vorwürfe machen, vielleicht zu Felix mit seinem Hund fliehen.
Das war jetzt nicht wichtig. Wichtig war – jetzt hier zu sein.