Rasante Zeiten - 1985 etc.. Stefan Koenig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Серия: Zeitreise-Roman
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750237100
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du sie anhast, können wir aus dem dunklen Zimmer heraus. Wenn dich der Televisor dann zufällig erfassen sollte, wirst du zumindest nicht automatisch gemeldet und einbestellt. Bei einer Einbestellung würdest du als NZG identifiziert und wir würden vor Gericht enden. Das wäre für uns beide das Ende.“

      „NZG? Was heißt das?“, fragte ich.

      „Nichtzugehöriger.“ Winston reichte mir in der Dunkelheit eine Tory-Trainingshose, damit ich sie gegen meine Jeans wechseln konnte. Als ich die Hose wie auch die Trainingsjacke angezogen hatte, fuhr ich mit der Hand über meine linke Brusthälfte und spürte den Aufnäher.

      „Welche Farbe hat mein Punkt?“

      „Natürlich Rot, damit du im Ministerium nicht auffällst“, sagte Winston.

      Ich zog meine neue Trainingsjacke stramm.

      „Fertig angezogen?“

      „Ich bin bereit“, sagte ich. Wir gingen in die beleuchteten Zimmer hinüber.

      Ich wusste es schon, aber Winston warnte mich erneut und eindringlich: Der Televisor war gleichzeitig Empfangs- und Sendegerät, das sämtliche Geräusche und Bewegungen registrierte und an eine zentrale Parteidienststelle meldete, wo die Parameter in einem Rechenzentrum ausgewertet wurden. Auffälligkeiten wurden mit der Einschaltung der Gedankenpolizei quittiert. Ob man auffällig geworden war und gerade zu einem bestimmten Zeitpunkt überwacht wurde, war gewissermaßen Glücksache. Doch man war instinktiv darauf eingestellt, jederzeit vom Televisor ins Visier genommen und ausgespäht zu werden.

      Die Gedankenpolizei bestand aus einer Spezialeinheit von Informatikern, deren besondere Gabe es war, aus dem maschinellen Who-is-Who politische Raster herauszufiltern, um Gedankenabweichler erkennen zu können.

       Ein kurzer Blitzgedanke durchzuckte mich. Ich erinnerte mich an Horst Herolds in den 70er-Jahren entwickelte und erstmals 1979 erfolgreich gegen die RAF angewandte Rasterfahndung in der BRD.

      Dann kehrten meine Gedanken zurück nach London. Gedankenabweichler in den Reihen des Herrschaftsapparates konnten nicht geduldet werden. Innerhalb der Partei wurde ein Gedankenverbrechen mit der gesellschaftlichen Zurückstufung in das Heer der Masse geahndet. Innerhalb der Ministerien wurden Gedankenverbrechen mit der Vaporisierung der Gedankenverbrecher bestraft. Salzsäure, Verdunstung oder einfache Verdampfung waren die vorherrschenden Mittel der Wahl, um Gedankenverbrecher zu eliminieren.

      Von ihnen durfte nichts zurückbleiben, kein Vermächtnis, kein überliefertes Wort, kein Erinnerungsgegenstand, keine Urkunde, weder Gehaltsbescheinigungen noch irgendwelche Kleidungsstücke.

      „Wenn wir erwischt werden, werden wir aus der Geschichte der Menschheit für immer verschwinden. Nichts von uns wird übrig bleiben. Niemand wird sich an uns erinnern können. Willst du das Risiko wirklich eingehen?“

      Ich schaute Winston an, und dann sah ich auf das einen Kilometer entfernte, wuchtig und weiß aus der düsteren Landschaft emporragende Wahrheitsministerium.

      „Bin bereit“, sagte ich und nickte entschieden, wie man nickt, wenn man sich selbst überzeugen und überwinden will.

      Das also, dachte ich mit einer Art diffusem Abscheu, ist jenes London, von dem ich als Schüler geschwärmt hatte, weil hier die Beatles im September 1969 über den Zebrastreifen der Abbey Road gegangen waren und ihren Song dabei gesungen hatten:

       Something in the way she moves

       attracts me like no other lover

       Something in the way she woos me

       I don't want to leave her now

       You know I believe and how

       Somewhere in her smile she knows

       that I don't need no other lover

      Auch Winston Smith war in seinen Kindheitserinnerungen gefangen und versuchte nachzuforschen, ob London immer so ausgesehen hatte. Die ständige Neubearbeitung der Vergangenheit, durchgeführt von tausenden zur strengsten Verschwiegenheit verpflichteten Ministeriumsbeamten, der Austausch von alten gegen neue Fotos in den Dokumenten der staatlichen Archive, die Neubeschreibungen der Zustände in alten Tages- und Wochenzeitungen – das alles hatte in Winstons Gedächtnis bereits einige verunsichernde Lücken hinterlassen.

      Manchmal wusste er selbst nicht mehr, ob dem, was er an Vergangenheit korrigierte, nun bereits die brandneue oder schon die mehrfach bearbeitete oder vielleicht noch die ursprüngliche Version der Wirklichkeit zugrunde lag. Er kam zusehends durcheinander.

      Hatten da immer diese langen Reihen heruntergekommen aussehender Häuser aus dem neunzehnten Jahrhundert gestanden? Waren die zerbombten Ruinen, auf deren Trümmer Unkraut wucherte, Überbleibsel des Zweiten Weltkriegs oder doch der Beweis neuer Kriegshandlungen, in die Großbritannien auf ewig verstrickt schien, als sei es eine gottgewollte Selbstverständlichkeit?

      Wir beeilten uns, um nicht zu spät an Winstons Arbeitsplatz zu kommen. Was bedeuteten die in der Ferne zu hörenden Detonationen? Waren es aktuelle Bombeneinschläge oder kamen die Einschlagsgeräusche bloß aus den Lautsprechern an den viktorianisch verzierten Straßenlaternen? Aber Winston schwieg vor sich hin und erinnerte sich nicht wirklich, während das Wahrheitsministerium in seiner übergroßen Dimension immer näher rückte.

      Wir hatten jetzt nur noch eine Strecke von vielleicht zweihundert Metern bis zum Eingang vor uns.

      „Wird man mich einlassen?“ Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man ohne irgendeine elektronische Erkennung in das Zentrum der Macht gelangen konnte.

      „Der rote Punkt ist fälschungssicher. Er besteht aus einem besonderen, einem geheim gehaltenen Farbspektrum, das nur ein spezielles optisches Spektrometer erkennen kann.“

      Ich wunderte mich, wie weit entwickelt dieses heruntergekommene Land war. Im internationalen Vergleich des Bruttoinlandsproduktes rangierte es auf Platz Sieben hinter der DDR.

      „Was, wenn man meinen Ausweis sehen will?“, fragte ich.

      „Wir kommen ohne persönliche Kontrolle hinein. Bleibe einfach an meiner Seite und frage mich harmlose Dinge, wie zum Beispiel, ob ich dir aktuelle Rüstungszahlen oder die Berichtszahlen über die in der letzten Schlacht gefallenen feindlichen Soldaten nennen kann. Das sind die üblichen Unterhaltungen, und wir fallen nicht auf, wenn wir entschlossen und wie gute alte Kollegen durch marschieren.“

      „Was wäre meine Funktion an deinem Arbeitsplatz?“

      „Du wirst von mir als mein neuer Kollege angelernt, ganz einfach.“

      Die Sonne fiel an diesem Morgen auf die unzähligen Fenster des Wahrheitsministeriums, deren Glas die Strahlen erbarmungslos zurück in die staubdurchsetzte Luft schleuderte. Die von der Sonne abgewandten seitlichen Fensterschlitze sahen aus wie Schießscharten einer Festung an der Atlantikwestfront 1942. Mein Herz schlug wild und ich fühlte Schweißperlen, die sich an meinem Haaransatz bildeten. Diese riesige Pyramide aus Schießscharten war uneinnehmbar; sie war ein Monument der neuen, der momentan absoluten Wahrheit:

      Wer die Macht zur Gestaltung der Gegenwart hat, hat die Macht über die Wahrheit. Wer über die Gegenwart verfügt, hat die Macht zur Veränderung der Vergangenheit und damit die Macht zur Gestaltung der Zukunft. Das jedenfalls war das Theorem, das Winston aus dem Parteiprogramm zu verstehen glaubte.

      Die Tories sagten, das Inselreich Großbritannien habe schon immer den verbündeten USA als riesiger Flugzeugträger gegen den Ostfeind gedient. Winston Smith aber wusste, dass es früher einmal andere Kräftekonstellationen gegeben hatte. Aber wo war dieses Wissen verankert? Nur in seinem eigenen Bewusstsein, das früher oder später samt seinem Körper unweigerlich in Staub zerfallen und von reflektierten Schießscharten-Sonnenstrahlen durchlöchert würde.

      Wenn die Massen die von der Partei verbreiteten Lügen glaubten, wenn alle Schriftdokumente, Lehr- und Tagebücher, Romane, Zeitungen und Zeitschriften, Filme, Bilder und Hörspiele umgeschrieben