Rasante Zeiten - 1985 etc.. Stefan Koenig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Серия: Zeitreise-Roman
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750237100
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zu erkranken. In der Regel entwickelt sich Typ-2-Diabetes langsam. Häufig vergehen bis zur Entdeckung fünf bis zehn Jahre, in denen die Erkrankung bereits erhebliche Schäden anrichten kann. Ursache der Diabetes-Erkrankung ist in der Regel sowohl eine zu geringe Produktion des Hormons Insulin als auch ein zu geringes Ansprechen der Körperzellen auf Insulin.“

      „Ist unser Arndt in Gefahr?“, fragte Doris.

      „Nein, nein, ich spreche hier nur von den allgemeinen Risikofaktoren. Bei Arndt haben wir alles im Griff.“

      Aber es war nicht so, wie wir alle dachten und wie Arndt gewiss hoffte.

      Wenn es mal nicht um Bier, Gesundheit, Politik und Wirtschaft ging, war Religion im Spiel. Dann lag der unterhaltsame Spielball bei Gott und der Welt. Insbesondere in diesen Tagen, da die indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi von zwei Mitgliedern ihrer Leibwache erschossen worden war – ebenso wie ihr vor 36 Jahren von einem Hindu-Nationalisten ermordeter Vater war sie Verfechterin der absoluten Gewaltlosigkeit gewesen.

      „Die Täter gehören der Religionsgemeinschaft der Sikhs an“, berichtete Gunnar sein Zeitungswissen aus dem SPIEGEL. „Gandhi hat deren Nationalheiligtum, den Goldenen Tempel in Amritsar, am 5. Juni von Regierungstruppen erstürmen lassen.“

      „Na, dann war sie wohl gar nicht so gewaltfrei wie sie getan hat“, sagte Tobias, und Christian meinte: „Alles ziemlich plumpe Schauspieler.“

      „Dass du so dein eigenes Berufsnest beschmutzen kannst“, warf Gunnar in gespielter Empörung ein. Und mit der »Nestbeschmutzung« landete der Ball erneut in der Politik, hatten doch gerade wieder einmal einige CSU-Granden den Sozialdemokraten Nestbeschmutzung vorgeworfen, weil diese in der Flick-Affäre auf schonungsloser Aufklärung bestanden.

      „Wobei die Sozis mit »schonungslos« gewiss nicht meinen, dass man auch die Zuwendungen von Unternehmen an sie selbst unter die Lupe nehmen solle“, sagte Tobias.

      Die politischen Saunaverhältnisse waren in unserer Frankfurter Nachbarschaft durchaus pluralistisch durchmischt. Tobias war den Christdemokraten zugetan, seine Frau schwankte zwischen CDU und FDP. Moni und Gunnar waren „Kleineres-Übel-Wähler“, was im Klartext bedeutete, dass sie treu zur SPD hielten, egal ob diese den Aufrüstungsbefehlen aus Washington gehorchte oder nicht.

      Gitti und Bernd waren bekennende Wechselwähler. Was ihnen aber niemand so recht abnahm, außer mir. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, dass beide keiner dogmatischen Partei-Haltung frönten, sondern sich nach den aktuellen und lokalen Gegebenheiten richteten.

      „Nun lasst doch mal die Sau raus“, forderte sie Christian auf, „und macht nicht so ’ne Show. Wer kriegt bei der nächsten Wahl eure Stimmen?“

      „Schon mal was vom Wahlgeheimnis gehört?“, konterte Bernd. „Aber im Ernst: Ich weiß nicht, was meine Frau wählt, ich zumindest mache es von den jeweiligen Umständen abhängig. Es kann schon mal sein, dass ich auf kommunaler Ebene CDU oder SPD wähle, je nach Kandidaten, und auf Bundesebene eben GRÜNE, also vielleicht, wer weiß, kommt ganz drauf an!“

      Ähnlich äußerte sich Gitti, die demnächst im Paul-Ehrlich-Institut, dem Bundesamt für Sera und Impfstoffe, anfangen würde. Sie war inzwischen unsere Expertin in Sachen AIDS, dem hochaktuellen Gesundheits- und Sex- beziehungsweise Anti-Sex-Thema. Sie informierte uns bereits jetzt über ihr Lieblings- und zukünftiges Arbeitsgebiet, über die neuesten Erkenntnisse aus der Impfindustrie und aus dem staatlichen Zulassungs- und Kontrollapparat.

      „Meine Parteipräferenz? Was ich wähle? Was weiß ich!“, sagte sie. „Es kommt ganz auf die aktuellen Angebote der Parteien an. Und was sie gegen AIDS zu tun gedenken.“

      Von AIDS, der unheilbaren, unweigerlich tödlich verlaufenden Krankheit, über die Ansteckungs- und Übertragungsgefahren bis hin zur Frage, ob wir eigentlich unsere Kinder schon hatten taufen lassen, bedurfte es keiner großen Gedankensprünge.

      „Nein, Karola und Luca sind noch nicht getauft“, sagte Emma. „Wir hätten es euch schon gesagt. Aber wir haben es vor. Wahrscheinlich um die Osterzeit herum. Wenn das Wetter mitspielt, machen wir ein Gartenfest.“

      „Seid ihr noch in der Kirche?“, fragte Doris.

      „Nein“, antworteten Emma und ich wie aus einem Mund.

      Ich war bereits zwei Tage nach meinem achtzehnten Geburtstag zum Amtsgericht gegangen, um mich erleichtert von der obersten Heuchler-Instanz zu verabschieden. Der Eintritt in die Gemeinde erfolgte stets automatisch, doch der Austritt machte einen amtsgerichtlichen Staatsakt – manchmal samt Begründung – nötig. Die Austrittsurkunde hing ich mir damals gerahmt in mein WG-Zimmer. 1968 hatte das ungenügende Engagement der Kirchenhäuptlinge gegen den Vietnamkrieg meine anti-kirchliche Haltung beflügelt. Besonders galt das für dieses eine Bild mit dem Militärpfarrer, der jenen hässlichen Langstreckenbomber mit Weihwasser besprühte. Gleichwohl lernte ich später viele ehrliche Christen in der Friedensbewegung schätzen.

      „Man will ja seine Kinder nicht zu Sonderlingen machen“, sagte Emma, und ich stimmte ihr zu.

      „Wenn alle zum Religionsunterricht gehen, nur deine Tochter hat eine einsame Freistunde, dann muss sich das Kind ja ausgeschlossen fühlen“, sagte ich. „Die Kinder können ja später entscheiden, ob sie der Kirche angehören wollen oder nicht.“

      „Ich wurde stockkatholisch erzogen und kenne die Doppelmoral dieser Brüder und Schwestern in- und auswendig“, sagte Gitti. „Aber ich bin immer noch in diesem Verein, weil ich denke, dass man seinen Kindern später keinen Gefallen tut, wenn bei der Kommunion alle Eltern gläubig neben ihren Kindern auf der Kirchenbank sitzen, aber deine Kids wissen, dass du zu der Sache nicht wirklich stehst.“

      „Was willst du damit sagen?“ Anne sah Gitti skeptisch, fast misstrauisch, an.

      „Ich will damit sagen, dass ich glaube, dass man die Kirche auch verändern kann. Dass man dabei bleiben sollte, wenn man sie verändern will. Dass es genug Potential in der Kirche gibt, um der Aufrichtigkeit und der Umsetzung christlicher Werte gerecht zu werden.“

      Anne schüttelte unmerkbar den Kopf und murmelte vor sich hin: „Na, dann mal viel Erfolg mit all den alten schmierigen Männern.“

      „Ja, es sind schwierige Männer. Aber eines Tages werden …“ Gittis Satz brach unvollendet ab und niemand machte sie auf ihren Hörfehler aufmerksam.

      Denn jetzt kam Moni mit sechs Botteln belgischem Bier zurück. Doch bevor wir die Flaschen köpften, starteten wir in die zweite Saunarunde, und erst danach aßen wir die Salate und Hähnchenschenkel und ließen uns das belgische Bier schmecken, wobei Doris dieses Mal kein Igitt, sondern einen wirklich undefinierbaren und doch irgendwie zufrieden-glucksenden Sufflaut hervorstieß.

      Traumreise nach London

      Emma schlief schon. Ich war angenehm erschöpft, aber noch nicht müde. Die beiden Saunagänge hatten gut getan – auch die Gespräche über Gott und die Welt hatten meine Gedanken vom Besuch der Staatsschutzbeamten und dem mysteriösen Hintergrund abgelenkt. Schlafen konnte ich noch nicht. Also knipste ich meine Nachttischlampe an und legte ein buntes Tuch darüber, damit Emma und Luca nicht wach wurden. Karola schlief schon in ihrem eigenen Kinderzimmer.

      Ich griff zu meinem Schmöker auf dem Nachttisch, war im Nu in Orwells »1984« versunken und erlebte mit Winston Smith die Welt der allgegenwärtigen Überwachung. Keine Ahnung, wie lange ich gelesen hatte; ich weiß nur, dass mich die Sache mit dem »Neusprech« sehr beschäftigte. Wenn ich nur mehr darüber erfahren könnte … Dann musste ich gerade noch das Licht ausgeknipst haben und mir mussten die Augen zugefallen sein …

      Es ist mir völlig schleierhaft, wie ich bei all diesen Kontrollen nach London gelangt war. Es war jedenfalls ein klarer, kalter Tag im November, und die Glocken am Big Ben schlugen gerade dreizehn, als ich den Victory-Block erreichte, in dem Winston Smith wohnte. Ich ging rasch durch die Glastür, nachdem mir ein unbestimmtes Summen anzeigte, dass Mr. Smith auf mein Klingeln hin den Öffner betätigt hatte.

      Irgendwie