Rasante Zeiten - 1985 etc.. Stefan Koenig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Серия: Zeitreise-Roman
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750237100
Скачать книгу
oder wer immer es war, vor Ungehorsam warnen. Das Gesicht war so aufgenommen, dass mich ihre herrischen Augen überallhin verfolgten. Ich schaute nach, ob die darunter aushängenden Zettel einen Hinweis auf den strengen Blick gaben. Tatsächlich hing dort die Hausordnung, die ich jedoch nicht zu lesen beabsichtigte. Darüber konnte mir Winston gewiss Auskunft erteilen. Unter dem Plakat stand in fetten Lettern: »Sie sieht dich! Sie liebt dich!«

      Winstons Wohnung lag sieben Stockwerke hoch, der Aufzug war außer Betrieb, und ich kam schnaufend an. Der Mann, der mir die Tür öffnete, sah verhärmt und grau aus. Seine Augen waren faltenumwölkt, hatten jedoch noch einen seichten Glanz und strahlten einen Rest Hoffnung aus, als sie mich wahrnahmen. Als hätte er mich lange schon erwartet, bat er mit einer einladenden Geste hinein, jedoch ohne ein Wort zu verlieren. Stattdessen legte er den Zeigefinger auf den Mund und bedeutete mir, ihm schweigend zu folgen.

      Smith war eine magere, gebrechliche Gestalt, die fast etwas Geisterhaftes an sich hatte. Betont wurde dies durch die graue Tory-Parteiuniform, die er trug, einer Art Trainingsanzug. Über seiner linken Brusttasche, dort, wo das Herz sitzt, war ein roter Punkt aufgenäht. Es bedeutete, dass Winston Smith eine Vertrauensperson innerhalb des Parteiapparates und somit auch im Ministerium war.

      Aus einem in die Wand eingelassenen modernen Volksempfänger, vermutlich aus Leichtmetall, der im Flur seitlich der Eingangstür angebracht war, klang eine blecherne Stimme und verlas Zahlen zur aktuellen Rüstungsproduktion. Winston drehte an der rechten Seitenwand an einem Metallrädchen. Er drehte es bis zum Anschlag, so dass die Stimme zwar leiser gestellt, aber nicht abgestellt werden konnte. Kurz hinter der Wohnungstür nahm Winston ein Tuch von der Linse des Volksempfängers, das bisher verhindert hatte, dass ich in ihr Blickfeld geriet. Es war ein Gerät, das sich »Televisor« nannte und das der Durchsage von Nachrichten für die Ministeriumsmitarbeiter, aber auch dem Empfang von Geräuschen und Gesprächen aus den Wohnungen und Büros derselben diente. Das Gleiche erfolgte auf optischem Weg – die Sendung und der Empfang von Bildern. Wir bogen hinter dem Gerät in ein Zimmer ein, das völlig verdunkelt war.

      „Zwangshören?“, fragte ich extrem flüsternd. Ich konnte mir das absolute Schweigen nicht antun. Zu sehr war ich die Freiheit der Rede und der Gedanken gewohnt.

      Sofort legte Winston seinen Finger wieder auf die Lippen. „Das Friedensministerium! Man kann den Televisor nicht abstellen!“, flüsterte er zurück und verschwand im Dunkel des Zimmers, in das ich ihm schweigend folgte. „Hier können wir uns leise unterhalten.“

      „Danke, dass du unter diesen schwierigen Umständen zu einem Interview bereit bist“, sagte ich. „Wir können uns doch duzen, oder?“

      „Wenn man mich verrät und beseitigt, ist es gleich, ob wir uns geduzt oder gesiezt haben.“

      Ich fand es schade, dass wir uns hier im Dunkeln nicht sehen konnten. Gerne hätte ich seinen Gesichtsausdruck, seine emotionalen Regungen wahrgenommen. Schließlich hatte ich als Journalist gelernt, nicht nur die gesagten Worte, sondern auch die Körpersprache im Zusammenhang mit jenen bloß mit den Lippen geformten Lauten zu deuten.

      „Ist es so schlimm?“, fragte ich. Mir war daran gelegen, für meine zukünftige wissenschaftliche Arbeit zum Datenschutz und zur Informationsfreiheit Fakten aus dem Dschungel zivilisatorischer Überwachungsdiktaturen zu sammeln. Und natürlich interessierte mich diese neue Sprache, das Neusprech.

      Winston tastete nach meiner Hand und führte mich zu einem Sessel. „Nimm Platz.“ Vorsichtig ließ ich mich nieder. Dann saß ich in einer tiefen, weichen Mulde. Links und rechts mit Armlehnen versehen, fühlte ich mich etwas eingeengt, aber das sollte mich nicht stören, sobald ich nur meine Fragen wahrheitsgemäß beantwortet bekäme. Ich hörte, wie sich Winston räusperte.

      „Es ist mehr als schlimm. Einen schlimmen Zustand kann man zumeist wieder ändern. Aber diesen endgültigen Verlauf kannst du nicht korrigieren, nicht rückgängig machen. Sie löschen Stück für Stück die Vergangenheit unwiederbringlich aus. Als Mitarbeiter der Abteilung IV des Wahrheitsministeriums bin ich unablässig mit der Korrektur alter Dokumente beschäftigt. Ich muss frühere Zeitungs- und Wissenschaftsartikel »verdeutlichen«, wie es in Neusprech heißt, also neu deuten. Ich muss ganze Bücher umschreiben, um die Vergangenheit umzudeuten und der Gegenwart anzupassen.“

      „Artikel neu deuten, sie »verdeutlichen« – was meinst du damit?“

      „Ich? Ich meine überhaupt nichts; es ist nicht mein Begriff. Es ist der Begriff der anderen! Die da oben meinen, man müsse die Erinnerung an alte Zeiten der neuen Zeit anpassen. Das nennt der Wahrheitsminister »verdeutlichen«. Sie wollen die Vergangenheit aus dem Gedächtnis tilgen, um der neuen, der sogenannten »wirklichen Wahrheit« Platz zu schaffen. Aber dies soll schleichend geschehen, durch immer neue, kleinere, fast unmerkliche und stetige Korrekturen, durch permanente Umdeutungen, bis schließlich keine wahre Erinnerung mehr existiert. Nach dem Motto: Steter Tropfen höhlt den Stein.“

      „Wie soll das geschehen? Man kann doch nicht die Vergangenheit aus dem Gedächtnis der Menschheit verschwinden lassen!“

      Vom Flur her hörte man weiter die überschwängliche Verlesung der Produktionszahlen zu neuen Pershings und zu atomar bestückten Jagdbombern sowie zu den in Erdbunkern rund um London versteckten Atomminen, die gezündet würden, sobald der Feind sich der Stadt nähern würde. Selbst mir, der ich mich in einem sicheren Land lebend dünkte, wurde Angst und Bange, als ich die endlose und voller Freude vorgetragenen Zahlen zur weiteren Aufrüstung gegen den Ostfeind vernahm.

      „Präsident Reagans Idee, dieser Rüstungswahn“, sagte Winston. „Die Eiserne Lady ist seine zweite Hand, seine Vollzieherin in Übersee.“

      Jetzt erst erkannte ich das strenge Frauengesicht, dass von allen Plakaten in dieser grauen Stadt auf die Menschen herunterschaute und deren Blicke jedermann unerbittlich verfolgten – es war Margaret Thatcher. Sie hatte den Falklandkrieg geführt und gegen Argentinien gewonnen. Biertrunken hatte ihr das Volk gedankt.

      Sie war die Stellvertreterin der USA in Europa und im Rest der Welt. Sie war Reagans Sprachrohr in der NATO und seine Vollstreckerin in den absolut notwendigen Auslandskriegen, um die Macht der imperial Mächtigen zu zementieren. Aber auch nach innen musste ein unbändiger und unablässiger Krieg geführt werden. Sie fuhr einen harten Vernichtungskurs gegen die Gewerkschaften, gegen Arbeitnehmer und Sozialisten. Sie hebelte deren verbürgte Rechte aus. Sie hatte die britische Industrie nach Reagans Vorbild an China versilbert, um dort billig produzieren zu lassen, und um mit dem eingenommenen Silberschatz den Finanzsektor zu füttern.

      „China wird unsere Werkbank! Und wir beherrschen die Weltfinanzen“, pflegte Mrs. Thatcher zu sagen.

      „Die Konservativen werden eines Tages jammern, dass sie ihre Industrie ins Ausland verscherbelt haben, nur um jetzt kurzfristig Profit zu machen und das Finanzkarussell zu beschleunigen. Sie wollen mit wenig Aufwand schnelle Casinogewinne einfahren“, sagte Winston halblaut.

      „Alles für die »Londoner City«? Alles für die »Bank of London«?“

      Er antwortete nicht, wahrscheinlich hatte er genickt, wie ich in diesem abgedunkelten Zimmer vermutete.

      Thatcher und ihre Tories hatten dem Staat das Recht genommen, die Finanzindustrie zu regulieren. Mit ihren einschneidenden Maßnahmen läuteten sie den Beginn des ungezügelten Casinokapitalismus ein. Sie privatisierten die Staatsunternehmen und reduzierten den Staat auf einen Erfüllungsgehilfen der Finanzoligarchen. Seither waren nur noch vier Ministerien zum Regieren nötig. Ihre Aufgaben waren bescheiden: Krieg führen, Liebe unterminieren, Chaos fördern, die Massen verdummen, sie auf Trab und knapp halten. Mehr war zum Regieren nicht nötig.

      Das Wahrheitsministerium, abgekürzt und in der Neusprache »Miniwahr« genannt, befasste sich vornehmlich mit der Neuschreibung der Geschichte sowie mit dem Nachrichtenwesen, der Propaganda, dem Freizeit- und Erziehungswesen und mit allen Kultur- und Kunstangelegenheiten. Winston war in Abteilung IV beschäftigt, die aus mehreren tausend Mitarbeitern bestand und sich der permanenten Geschichtsrevision widmete.

      „Was machst du da genau?“, fragte ich.

      „Du wirst