Wie kam es, dass mir das im Vorfeld nicht bekannt gewesen war? Plötzlich hatten es alle gewusst! War das die Konsequenz auf mein Leben als Einsiedlerin? Denn, um ehrlich zu sein, wusste ich eigentlich gar nichts von irgendjemandem aus der Kleinstadt und der Umgebung, wenn ich nicht selbst schon einmal näheren Kontakt zu einer Person gehabt hatte. Ich wusste ja nicht einmal etwas über meinen direkten Nachbarn. Ich wusste nur, dass er Rentner war, der dort ganz allein wohnte und sich im Sommer gern nackt auf einer Liege in seinem Garten von der Sonne braten ließ.
»Das höre ich zum ersten Mal«, trotzte ich, um mir nicht anmerken zu lassen, wie dumm ich mir vorkam.
»Im Ernst?«
Jetzt zog auch ich eine Augenbraue hoch und warf ihr einen vielsagenden Blick zu.
»Ich konnte ja nicht wissen, wie ahnungslos du bist. Man denkt sich seinen Teil, das war's.«
»Willst du mir damit sagen, dass du die ganze Zeit über angenommen hast, dass ich mir über seinen fragwürdigen Ruf bewusst bin und ich es der Liebe wegen gleichmütig erdulde?«
Emmy ließ den Blick auf ihre Hände sinken, die auf der Tischplatte lagen, die Finger ineinander geflochten. »Entschuldige, Leonie, aber du warst glücklich. Das war das Einzige, was zählte. Ich wollte kein Querschläger sein. Man weiß doch, wo das immer endet. Ich meine, ich mag dich. Ich mag dich eben sehr, verstehst du?«
Ja, ich verstand.
Zu jenem Zeitpunkt hatten Emmy und ich einander gerade erst in der Arbeit kennengelernt. Sie war neu gewesen und ich sollte sie einarbeiten. Und aus einem mir unerfindlichen Grund hatte sie einen Narren an mir gefressen. Ausgerechnet an mir! Andere Kollegen waren viel geselliger, aufgeschlossener und einfühlsamer als ich. Ich war eher förmlich und sachbezogen – professionell eben. Doch Emmy hatte mir erklärt, sie hätte es in meinen Augen gesehen, dass wir zueinander passten. (Daraufhin hatte ich meine Augen so lange und gründlich im Spiegel betrachtet wie noch nie zuvor in meinem Leben, um irgendein Merkmal ausfindig zu machen, das ihre These unterstützte. Doch das Einzige, was ich herausgefunden hatte, war, dass das rechte Auge niedriger saß als das linke.) Deshalb hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, meine Fassade zum Bröckeln zu bringen und zu mir durchzudringen. So wäre sie allem, was mich gegen sie aufgebracht hätte, aus dem Weg gegangen.
Ich schenkte ihr ein offenes Lächeln als Antwort. »Ich hätte mir viel Ärger erspart.«
»Seien wir realistisch: hättest du mir geglaubt?«
»Tut man das je, wenn man frisch verliebt ist?«
Emmy seufzte schwer, sank in die Lehne zurück und legte ihre Hände auf den Bauch wie eine Schwangere. »Sitzt der Schock sehr tief?«
»Offen gesagt, nein!«
»Nein?«
Es war eine Sache, dass ich es nicht früher gewusst hatte, eine andere, dass ich immerhin während unserer Beziehung hinter diese unangenehmen Eigenschaften gekommen war. Ich baute mich mit dem Gedanken auf, dass es irgendwo da draußen Leute gab, die nicht einmal das von selbst geschafft hätten.
»Genau wie du stehe ich vor einer schwierigen Entscheidung.«
Emmy machte große Augen. »Warum hast du mich nicht zu Rate gezogen, wenn es derart schlecht um euch bestellt ist? Das wusste ich nicht.« Sie sah ernsthaft gekränkt aus.
»Ich gehe eben ungern an die Öffentlichkeit mit meinen privaten Angelegenheiten.«
»Du nennst mich Öffentlichkeit?«
»Nein, natürlich nicht im klassischen Sinne. Ich bereinige das Problem nur gern an der Stelle, wo es sitzt.« Ich verschwieg, dass ich für Angelegenheiten wie diese üblicherweise auf Paulina, meine ganz persönliche Psychotherapeutin, zurückgriff, weil ich ahnte, dass Emmy es als Beleidigung auffassen könnte. Und jetzt erst recht, da sie wusste, dass Paulina und ich miteinander Knatsch hatten. Aber dass ich lieber ein Problem anpackte, statt stundenlang davon zu sprechen, hatte trotzdem seine Richtigkeit.
»Schon gut.« Scheinbar wollte sie es mir überlassen, wem gegenüber ich mich aussprechen wollte und wem gegenüber nicht. Und doch bohrte sie nach einer kurzen Denkpause nach: »Also beabsichtigst du, die Beziehung zu beenden?«
»Ich schätze schon.«
»Das heißt, du bist dir noch unschlüssig?«
Ich horchte in mich hinein. Nein, eigentlich nicht. »Nein, eigentlich steht es fest.«
Emmy zog die Augenbrauen zusammen. Es war die Art, mir mitzuteilen, dass sie sich ein wenig verschaukelt fühlte. »Wenn du Worte wie ›ich schätze‹ oder ›eigentlich‹ verwendest, weist es nicht gerade darauf hin, dass du dir sicher bist, Leonie.«
»Verdammt, ich weiß, aber ich bin mir sicher!« Ich atmete tief durch. »Ich bin nur der Auffassung, dass Weihnachten nicht gerade der richtige Zeitpunkt ist, um mit jemandem Schluss zu machen, findest du nicht?«
»Es mag durchaus taktlos erscheinen, aber wenn die Fronten klar sind ... Die Fronten sind doch klar?«
»Das nehme ich an.«
»Du nimmst es an?« Sie starrte mich völlig verdattert an. Sie musste meinen, Matz und ich lebten ein Leben reich an Verdrängung und Heuchelei.
»Er scheint nicht direkt unglücklich, nur ein bisschen genervt von meiner zickigen Art, die in letzter Zeit immer häufiger hervorbricht. Außerdem weiß ich auch nicht, wie weit seine Wahrnehmungskraft reicht. Nicht, dass ich ihn für strunzdumm hielte, aber du weißt ja: Männer!«
»Tztz«, erwiderte Emmy Augen verdrehend. »Männer wie er sind sich sehr wohl bewusst, wann es brenzlig wird. Spätestens wenn er nicht mehr widerspricht und sich zurückzieht, um erst einmal Gras über manch strittige Angelegenheiten wachsen zu lassen, solltest du dir Gedanken machen. Aber so richtig schlimm ist es erst, wenn er dir ein Geschenk aus der Reihe macht. Er will dich damit besänftigen, dich daran erinnern, warum du dich einst in ihn verliebt hast. Und wenn gar nichts mehr geht, drückt er auf die Tränendrüse, denn welche Frau fühlt sich nicht geehrt, wenn der Mann, sonst so zäh und potent, sich plötzlich so sensibel und angreifbar zeigt und wegen ihr heult?«
Nun kam ich mir strunzdumm vor. Es ging mir nicht darum, ihn nicht verletzen zu wollen oder darum, nicht in der Rolle der Bösen auftreten zu müssen oder gar darum, dass ich tief im Innern glaubte, da wäre noch etwas zu retten. Es ging einzig darum, dass ich mich nicht in der Lage fühlte, der Beziehung den Gnadenschuss zu geben. Ausgerechnet ich! Ich wusste nicht wann, wie oder wo ich es tun sollte. Doch eigentlich kam es mir mehr noch so vor, als ob es sich nicht gehörte.
»Seit wann bist du so zimperlich?«, war Emmy, die sich inzwischen an meine raue Art gewöhnt hatte, zu Recht erstaunt. Obwohl ich ja der Meinung war, dass ich gar nicht mehr so rau war, sobald ich einen Menschen in mein Herz geschlossen hatte. Aber nun tat sie ja gerade so, als käme ich einem wilden, mordlustigen Tier gleich, das unter Umständen seine Beute am lebendigen Leibe begann zu verspeisen.
»Womöglich bin ich es einfach nur gewohnt, dass sonst immer ich die Verlassene bin (in jeder Hinsicht).« Es gab Dinge im Leben, die konnte man nun einmal nicht erklären, auch wenn ich dazu neigte, es trotzdem immer wieder auf einen Versuch ankommen zu lassen. Und seit Neuestem scheiterte ich immer öfter daran – so wie jetzt.
Wieder verdrehte sie die Augen. »Und seit wann zergehst du in Selbstmitleid?«
»Das tue ich doch gar nicht!«, protestierte ich so energisch, dass ich die Kontrolle über meine Stimme verlor und einige Leute, die sich unmittelbar in unserer Nähe befanden, nach mir schauten. »Außerdem windest du dich ja auch und kannst keinen plausiblen Grund dafür angeben, aus dem du nicht längst die Scheidung eingereicht hast.« Ja, ich weiß, es war kein feiner Zug, von mir auf sie zu lenken, nur um irgendwie den Kopf aus der Schlinge zu bekommen, aber mir schien, dass ihre Vorwürfe ausufern wollten. Ich mochte mich nicht