Frag nicht? Dabei warf all das so einige Fragen auf, zum Beispiel: »DVD-Abend? Etwa so ganz allein?«
»Na ja, ich dachte, es wäre kein guter Zeitpunkt, dir jetzt mit so etwas auf den Pelz zu rücken.« Sie seufzte laut und schwer. »Du hast weiß Gott andere Sorgen.«
»Du meinst, aufgrund von Matz?«
»Es geht nicht nur um Matz.« Ich vernahm, dass sie sich einen einzelnen Kartoffelchip möglichst leise zwischen die Zähne schob und beim Kauen die Hand vor die Sprechmuschel hielt.
Ich grinste in mich hinein. »Sondern?« Sollte ich das denn nicht besser wissen? Immerhin sprachen wir hier gerade über meine Sorgen.
»Dieser Einbrecher ...«
»Santa Claus«, bestand ich drauf.
»Okay, dieser Santa Claus, dann der Streit mit Paulina ...«
Ich hatte das dringende Bedürfnis, sie zu unterbrechen: »Meinst du nicht, dass mich so ein DVD-Abend vielmehr von diesen Sorgen ablenken würde?« Außerdem war ich deswegen gar nicht so deprimiert, wie ich eigentlich hätte sein sollen.
»Und dann der Zoff mit Hannes und mir heute Morgen. Du musst doch die Nase gestrichen voll haben von mir.«
Aha, da kamen wir der Sache schon sehr viel näher. Nicht, dass ich sie für wenig mitfühlend hielt, doch für gewöhnlich wären Santa Claus und Paulina kein allzu triftiger Grund gewesen, mich aus derartigen Aktivitäten auszuschließen. Siehe gestern, als sie mich zu dem Weihnachtsshopping animiert hatte.
»Nun mach dich mal nicht lächerlich.«
»Ich kam mir nur so kindisch vor. Ich bin vierzig!«
»Na und!«
»Nicht gerade vorbildlich ...« Schämte sich Emmy etwa? Und das nur, weil sie älter war als ich?
Das trieb ich ihr gleich darauf aus: »Hey, ich brauche keine Mama! Und Unvernunft kennt kein Alter, wenn es um die Gefühlswelt geht.«
»Nun ja«, druckste sie dann herum, »und hinzu kommt, dass du und Hannes ...«
»Emmy, mach mal einen Punkt!«, reagierte ich ein wenig ungehalten.
»Ihr versteht euch so gut. Ich fürchte, du nimmst an, dass ich das eiskalte Biest bin und er der arme, verlassene Tropf ist.«
Für einen Moment hatte es mir die Sprache verschlagen, musste das Gesagte vorerst in meinem Kopf sortieren, nachdem ich gedacht hatte, sie würde Hannes und mir mehr als nur stinknormale Sympathie andichten.
Armer, verlassener Tropf! Verlassen? Wann hat sie ihn verlassen? »Wann hast du ihn verlassen?«, wiederholte ich meinen Gedanken sogleich laut.
»Das ... ähm ... habe ich noch nicht.«
Na schön, das mit dem eiskalten Biest und dem armen, verlassenen Tropf war also nur eine Phrase. Erleichtert atmete ich durch. »Also ist er die eiskalte Bestie und du die arme, verlassene Sau?«
»Nein«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen, »so war das nicht gemeint. Keiner von uns ist besser oder schlechter als der andere. Es war eben nur diese Furcht davor, du könntest der Meinung sein, ich würde überreagieren und die Trennung nur aus rein egoistischen Gründen wollen.«
»Und wieso gibst du ihm dann das Gefühl, er allein träge die Schuld für die ganze Misere?«
»Weil er es nicht anders will, Leonie!« Ich konnte ihrer Stimme einen gewissen Grad an Erschöpfung entnehmen. »Außerdem geht es im Augenblick nicht um Hannes und mich, sondern um dich und Matz.«
Erst jetzt fiel mir auf, wie selbstlos ich war. Oder lag es vielmehr daran, dass ich erstaunlich gut über der Trennung stand und es somit keinen übermäßigen Klärungsbedarf mehr gab? Ich war mir selbst ein bisschen unheimlich.
»Schon gut, schon gut!«
»Ist dir denn nicht aufgefallen, dass Matz dir am Ende seines Briefes sogar noch ein schlechtes Gewissen einreden wollte? Das ist seine Art, um von sich und seinem Verhalten abzulenken.«
Gut möglich, denn statt ihm nun Vorwürfe zu machen, war ich schlicht froh, dass ich das Schwerste durchgestanden hatte, und zwar das Schlussmachen. Das Einzige, was mich noch immer brennend interessierte, war der Name der Frau, mit der er mich betrogen hatte. Doch wenn ich den Namen der Frau erführe, was würde ich schon tun? Vielmehr war Matz nun irrelevant für mich. War das nicht das einzig Wichtige?
»Tja, da muss ich ihn wohl enttäuschen, denn ich habe kein schlechtes Gewissen.«
»Du bist ganz schön abgeklärt«, bemerkte Emmy. Ihrer Tonlage konnte ich entnehmen, dass sie das geradezu erschütterte, besonders da ich ihr gestern noch zu erklären versucht hatte, mit wie vielen Unannehmlichkeiten das Ganze verbunden war.
»Oh nein, Emmy«, meine Stimme klang hart, »du irrst dich. Ich fühle mich schlicht und ergreifend befreit.«
***
Zum ersten Mal in diesem Jahr konnte ich mich aufraffen, über den Weihnachtsmarkt zu schlendern, in der Hoffnung, dessen besinnliche Atmosphäre würde mich ein klitzekleines bisschen in Weihnachtsstimmung versetzen. Es war früh am Abend, doch die Dunkelheit war längst hereingebrochen, und so weit das Auge reichte, konnte man bunte Lichter tanzen sehen. Rundum hysterisches Kreischen, laute Kirmesmusik und das Pfeifen und Rauschen der Fahrgeschäfte. An den Fressbuden aus hellem Holz, dessen Dachgiebel Tannengirlanden und Lichterketten zierten, herrschte dichtes Gedränge und die Luft war erfüllt von süßen, fetten und zu mächtigen Gerüchen. Ich wagte nicht, tief einzuatmen. Nicht nur, dass ich der Verführungskraft der ganzen Köstlichkeiten erliegen könnte, außerdem beschlich mich das Gefühl, dass mich allein das Inhalieren der Kalorien aufgehen ließ wie einen Hefekuchen. Doch immerhin zeigte diese typische Marktatmosphäre nach fünf Minuten tatsächlich Wirkung und gab mir ein Stück Behaglichkeit zurück.
Als mir der Geruch von Glühwein um die Nase schwirrte, übermannte mich das plötzliche Verlangen, mich damit von Innen aufzuwärmen und meine Nerven zu beruhigen. Und ganz besonders musste ich mal etwas lockerer werden. Also schloss ich mich einem wilden Haufen Jugendlicher an, der offensichtlich dasselbe im Sinn hatte. Na gut, womöglich hatten sie auch nur die Absicht, sich sinnlos zu besaufen.
Als ich meine Tasse Glühwein endlich mit beiden Händen, die in Fäustlingen steckten, entgegennehmen konnte, sprach mich auf einmal eine mir bekannte Stimme von der Seite an.
»Leonie? Bist du das?« Anscheinend war es nicht gerade ein Einfaches, mich unter meiner tief in die Augen gezogenen Kapuze meines Mantels und dem bis zur Nase hochgezogenen Schal zu identifizieren. (Es war mir völlig klar, dass dieses Outfit keine Männerherzen höher schlagen ließ, aber es war wirklich bitterkalt geworden.)
Ich trat beiseite, um dem nächsten Kunden Platz zu machen, hielt gleichzeitig Ausschau nach der Stimme.
»Rainerrr!«, war dagegen Matz' Vater eindeutig zu erkennen. Daraufhin trat auch die Mutter hinter Rainer hervor. »Und Maaargret!«, verschüchterte mich besonders ihre Präsenz. Dennoch versuchte ich, möglichst unverkrampft aufzutreten, wobei ein unverstelltes Lächeln unmöglich schien. Also unterließ ich es gleich. Zum Glück war mein Gesicht ja fast vollständig verdeckt, da machte Mimik ohnehin wenig Sinn.
»Wir wären beinahe an dir vorbeigegangen«, versuchte Margret das laute Gelächter vorbeizwängender junger, sehr aufgedonnerter Mädels mit Biermischgetränken in den Händen, die Flaschen aus Sicherheitsgründen teils in die Höhe haltend, teils dicht an die Körper pressend, zu übertönen.
Da herrschte an diesem Ort ein solch unübersichtliches Treiben, obendrein machten mich meine dicken Klamotten nahezu unkenntlich, trotzdem hatten sie mich ausfindig gemacht wie verdammte Trüffelschweine. Da blieb einem glatt die Spucke weg.