Griechen werden mich bereden, wieder in ihren Reihen zu kämpfen; denn wann habe ich einen Dank
für meine Heldenarbeit davongetragen? Wie eine Mutter den nackten Vögelchen den gefundenen
Bissen darbringt, auch wenn sie selbst hungert, so habe ich unruhige Nächte und blutige Tage genug
zugebracht, um jenen Undankbaren ein Weib zu erobern, und was ich erbeutet hatte, brachte ich
dem Atriden zur Gabe dar; er aber nahm die Schätze, behielt das meiste und verteilte davon nur
weniges; mir selbst hat er auch die lieblichste Beute entrissen. Darum will ich morgen schon Zeus und
den Göttern opfern; noch im Morgenrote sollen meine Schiffe im Hellespont schwimmen, und in
dreien Tagen hoffe ich in Phthia zu Hause zu sein. Einmal hat er mich betrogen, zum zweiten Male
wird er mich nicht täuschen; er begnüge sich! Gehet und meldet den Fürsten diese Botschaft, Phönix
aber bleibe, wenn es ihm gefällt, und schiffe heim mit mir ins Land der Väter!«
Vergebens suchte Phönix, sein alter Freund und Führer, den jungen Helden auf andere Gedanken zu
bringen. Dieser winkte dem Patroklos, dem alten Helden ein warmes Bette zurechtzumachen. Da
stand Ajax auf und sprach: »Odysseus, laß uns gehen, in der Brust des Grausamen wohnt keine
Milde; den Unbarmherzigen bewegt nicht die Freundschaft der Genossen, er trägt ein
unversöhnliches Herz im Busen!« Auch Odysseus erhob sich nun vom Mahle, und nachdem sie den
Göttern das Trankopfer dargebracht, verließen sie mit den Herolden das Zelt des Achill, bei dem nur
Phönix zurückblieb.
Dolon und Rhesos
Als Odysseus die unwillkommene Botschaft aus dem Zelte des Peliden mitbrachte, verstummten
Agamemnon und die Fürsten. Kein Schlaf legte sich die ganze Nacht über auf die Augenlider der
Atriden; in banger Angst erhoben sich beide noch lang vor Tagesanbruch und teilten sich in ihr
Geschäft. Menelaos ging, die Helden Mann für Mann in den Zelten zu bearbeiten; Agamemnon aber
wandelte nach der Lagerhütte Nestors. Er fand den Greis noch im weichen Bette ruhend; Rüstung,
Schild, Helm, Gurt und zwei Lanzen lagen an der Seite des Lagers. Der Greis, aus dem Schlaf erweckt,
stützte sich auf den Ellbogen und rief dem Atriden zu: »Wer bist du, der in finsterer Nacht, wo andere
Sterbliche schlummern, so einsam durch die Schiffe wandelt, als suchtest du einen Freund oder ein
verlaufenes Maultier? So rede doch, du Schweigender, was suchst du?« »Erkenne mich, Nestor«,
sprach jener leise, »ich bin Agamemnon, den Zeus in so unergründliches Leid versenkt hat; kein
Schlaf kommt in meine Augen; mein Herz klopft; meine Glieder zittern aus Angst um die Danaer. Laß
uns zu den Hütern hinabgehen, ob sie nicht schlummern. Weiß doch keiner von uns, ob die Feinde
nicht noch in der Nacht einen Angriff machen werden!« Nestor zog eilig seinen wollenen Leibrock an,
warf den Purpurmantel um, ergriff die Lanze und durchwandelte mit dem Könige die Schiffsgassen.
Zuerst weckten sie Odysseus, der auf ihren Ruf sogleich den Schild um die Schultern warf und ihnen
folgte; dann nahte sich Nestor dem Zelt und der Lagerstatt des Tydiden, berührte ihm den Fuß mit
der Ferse und weckte ihn scheltend. »Unmüßiger Greis«, antwortete der Held im halben Schlafe, »du
kannst doch nimmer von der Arbeit ruhen! Gäbe es nicht Jüngere genug, die das Heer bei Nacht
durchwandern und die Helden aus dem Schlafe wecken könnten? Aber du bist unbändig, Alter!« »Du
hast wohlziemend geredet«, erwiderte ihm Nestor, »habe ich doch selbst Völker genug, dazu
treffliche Söhne, die dies Amt verrichten könnten. Aber die Bedrängnis der Achiver ist viel zu groß, als
daß ich nicht selbst tun sollte, was das Herz mir gebietet. Auf der Schwertspitze steht bei ihnen
Untergang und Leben; deswegen erhebe dich und hilf du selbst uns den Ajax und Meges, den Sohn
des Phyleus, wecken!« Diomedes warf sogleich sein Löwenfell um die Schultern und holte die
verlangten Helden. Nun musterten sie zusammen die Schar der Hüter, aber keinen fanden sie
schlafend: alle saßen munter und wach in ihren Rüstungen da.
Allmählich waren jetzt alle Fürsten vom Schlaf aufgeweckt worden, und bald saß die
Ratsversammlung vollständig beisammen. Nestor aber begann das Gespräch: »Wie wär es, ihr
Freunde«, sagte er, »wenn jetzt ein Mann die Kühnheit hätte, hinzugehen zu den Trojanern, ob er
nicht etwa einen der Äußersten erhaschen könnte oder ihren Rat erlauschen und erfahren, ob sie
hier auf dem Schlachtfelde zu bleiben gedenken oder mit dem Siege sich in ihre Stadt
zurückzuziehen? Edle Gaben sollten den kühnen Mann belohnen, der solches wagte!« Als Nestor
ausgeredet, stand Diomedes auf und erbot sich zu dem Wagnisse, falls ein Begleiter sich zu ihm
gesellen wollte. Da fanden sich viele bereit: die Ajax beide, Meriones, Antilochos, Menelaos und
Odysseus; und Diomedes sprach: »Wenn ihr mir anheimstellet, den Genossen selbst zu wählen, wie
sollte ich des Odysseus vergessen, der in jeder Gefahr ein so entschlossenes Herz zeigt und den Pallas
Athene liebt! Wenn er mich begleitet, glaube ich, wir würden aus einem Flammenofen zurückkehren;
denn er weiß Rat wie keiner.« »Schilt und rühme mich nicht zu sehr«, antwortete Odysseus, »du
redest beides vor kundigen Männern! Aber gehen wir; denn die Sterne sind schon weit vorgerückt,
und wir haben nur noch ein Dritteil von der Nacht übrig.«
Darauf hüllten sich beide in furchtbare Rüstung und machten sich unkenntlich; Diomedes ließ
Schwert und Schild bei den Schiffen und entlehnte das zweischneidige Schwert des Helden
Thrasymedes sowie dessen Sturmhaube und Stierhaut, ohne Federbusch und Roßschweif. Dem
Odysseus gab Meriones Bogen, Köcher und Schwert und einen Helm von Leder und Filz mit
Schweinshauern. So verließen sie das griechische Lager und wandelten in der Nacht dahin. Da hörten
sie einen Reiher von der rechten Seite schreiend vorüberflattern, wurden des Glückszeichens froh,
das ihnen Pallas Athene sendete, und flehten zu ihr um Begünstigung ihres Unternehmens. So gingen
sie durch Waffen, Blut und Leichen im Dunkel dahin, an Mut zween wilden Löwen gleich.
Während diese Auskundschaftung im griechischen Lager verabredet wurde, hatte in der
Versammlung seiner Trojaner Hektor denselben Vorschlag gemacht und aus der griechischen Beute,
die er hoffte, einen Wagen und zwei der edelsten Rosse dem Manne versprochen, der es über sich
nehmen würde, den Zustand des griechischen Lagers zu erforschen. Nun befand sich unter dem
trojanischen Volke der Sohn des Eumedes, eines edlen Herolds, namens Dolon, ein an Geld und Erz
wohlbegüterter Mann von unansehnlicher Gestalt, aber ein gar hurtiger Läufer, neben fünf