„Sie können sich bereits jetzt revanchieren, indem Sie mich wieder zu meinen Leuten zurück fahren. Wir haben heute noch viel zu erledigen.“
„Natürlich, natürlich, kommen Sie.“ Tante Rosie winkte einladend und Dr. Malinkow nahm wieder auf dem Beifahrersitz Platz. „Mach’s gut Mia. Bis zum nächsten Mal“, rief er mir noch zu, bevor er wieder in einer Staubwolke verschwand.
Erleichtert öffnete ich die Haustür und sah mich zuerst nach Wotan um. Ich musste die Bestie irgendwie bändigen, bevor Tante Rosie zurück war. Zu meiner Überraschung lag er friedlich auf seiner Decke neben der Tür und schaute Schwanz wedelnd zu mir hoch.
„Da bist du ja, du Monster. Ich muss dich jetzt erstmal entschärfen“, sagte ich zu ihm, während ich nach dem Maulkorb griff, der neben der Tür hing. Widerstandslos ließ er ihn sich umbinden. Schließlich legte ich ihm noch Leine und Halsband an und führte ihn dann in das Arbeitszimmer meiner Mutter, schloss die Tür und drehte den Schlüssel um, der von außen im Schloss steckte.
„Kindchen!”, hörte ich auch schon ein Rufen auf dem Gartenweg.
„Ich bin im Haus, du kannst reinkommen“, antwortete ich, während ich beobachtete, wie Tante Rosie die Tür einen Spalt weit öffnete und vorsichtig hindurch lugte.
„Wotan ist eingesperrt. Die Gefahr ist gebannt“, rief ich ihr zu.
Tante Rosie setzte zögernd einen Fuß über die Schwelle.
„Weißt du was?", sagte sie zu mir, als sie schließlich im Hausflur stand.
„Jetzt hätte ich gerne eine starke Tasse Kaffee und ein kleines Gläschen Cognac.“
So begann mein neues Leben mit Tante Rosie.
„Also“, sagte sie, als wir zusammen am Küchentisch saßen. „Deine verrückten Eltern haben dich alleine gelassen, und sind an den Nordpol gezogen.“
„Südpol“, korrigierte ich sie. „Na, dann eben Südpol, das Ergebnis ist das selbe“, brummte sie und nippte an ihrem Kaffee. „Deine Mutter hat als Kind schon nichts als Flausen im Kopf gehabt, das scheint bei uns irgendwie in der Familie zu liegen.“
Sie sah mich prüfend an. „Was ist mit dir?“
Ich selber fühlte mich eigentlich sehr normal – vielleicht war ich etwas aus der Art geschlagen.
„Was ist mit dir?”, gab ich die Frage zurück. Sie sah mich fragend an.
„Wie kommt es, dass du alle Zelte abbrichst und für ein Jahr mein Kindermädchen spielen kannst?“
Und so kam es, dass wir den restlichen Nachmittag mit Tante Rosies Lebensgeschichte verbrachten. Ein aufregendes Leben, das mit ihrer Kindheit in einem kleinen norddeutschen Dorf begann, ihre Zeit im Internat, dann an der Uni, ihre Zeit als Journalistin, ihre drei Ehemänner und ihr eigener Zeitungsverlag in den USA zogen in bunten Bildern an mir vorbei.
„Tja, und als mein lieber Henry das Zeitliche gesegnet hatte, beschloss ich, meinen Zeitungsverlag zu verkaufen und nach Deutschland zurückzukehren“, schloss sie ihre Geschichte. „Ich bin also frei und kann tun und lassen was ich möchte.“
Kapitel 5: Dem Tod entronnen
Meine unkonventionelle Tante war zwar in einem Sportwagen mit nur einer kleinen Reisetasche bei mir vorgefahren, am nächsten Morgen stellte sich allerdings heraus, dass dies nur die Spitze des Eisbergs war.
In aller Herrgottsfrühe, noch bevor mein Wecker klingelte, wurde ich von lautem Motorenlärm geweckt. Ein LKW mit einem Überseecontainer hielt vor unserem Garten und zwei Männer sprangen aus der Fahrerkabine. Ich sah durch mein Fenster, wie Tante Rosie den beiden die Gartenpforte öffnete und ihnen unter lautem Gestikulieren den Weg ins Haus wies. Wotan, der die Nacht in meinem Zimmer verbracht hatte, stellte sich neben mich, sah aus dem Fenster und stimmte ein kurzes Knurren an.
„Pscht“, wies ich ihn zurecht und er verstummte sofort. Verwundert sah ich ihn an – so viel Gehorsam hatte ich nicht erwartet. Allerdings hatte er mich bereits am Tag zuvor überrascht, als er – völlig unerwartet – Tante Rosie unbehelligt ließ, obwohl sie in unserer Küche saß.
Wir hatten ihn, nachdem Tante Rosies Lebensgeschichte beendet war, aus seiner Einzelhaft befreit. Mit Leine und Maulkorb hatte ich ihn mit klopfendem Herzen in die Küche geführt, wo Tante Rosie reglos und mit einem großen Stück Wurst bewaffnet am Küchentisch saß. Zu unserer Verblüffung machte er keinerlei Anstalten, sie in Stücke zu zerreißen, sondern setzte sich vor sie, legte eine seiner großen Vorderpfoten auf ihr Knie und sah unverwandt das Stück Wurst an, das sie in der Hand hielt. Vorsichtig, ganz vorsichtig, brach Tante Rosie ein Stück ab und schob es ihm durch die Gitter seines Maulkorbs hindurch in die Schnauze. Und ebenso vorsichtig nahm Wotan das Wurststückchen und kaute lange und genussvoll darauf herum.
„Ich glaube, wir können ihm den Maulkorb abnehmen“, meinte Tante Rosie, nachdem Wotan auf diese Art und Weise eine ganze Fleischwurst verzehrt hatte. Mit zitternden Fingern löste ich die Riemen von seinem Kopf, die Leine fest in meiner Hand. Wotan sah mich kurz an, dann drehte er sich um, stellte sich vor Tante Rosie und leckte ihr mit seiner riesigen Zunge einmal quer durch das Gesicht. Tante Rosie quiekte angewidert, fing dann doch an zu lachen und tätschelte ihm schließlich etwas zögernd den Kopf.
„Ich glaube“, sagte sie, „dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.“
Und nun stand ich mit Wotan am Fenster und wir sahen zu, wie aus dem Container Kisten, Koffer, ein Fernseher, eine Stereoanlage, ein Computer, eine Stehlampe in futuristischem Design, ein Lesesessel und zum guten Schluss noch ein riesiger Spiegel ins Haus getragen wurden. Meine Tante sprang zwischen den Männern umher und es erschien mir wie ein Wunder, dass sie keinen von ihnen zu Fall brachte. Nach etwa einer halben Stunde war der Container leer und das Schauspiel beendet. Gemeinsam mit Wotan ging ich die Treppe herab, neugierig ob im Untergeschoss noch Platz zum Atmen übrig geblieben war. Kisten stapelten sich im Flur und ließen nur noch einen schmalen Pfad frei, dem ich in die Küche folgte. Hier saß meine Tante am Tisch, auf dem sich die Stereoanlage zusammen mit dem Computer drängte. Überragt wurde das Bild von der imposanten Stehlampe, die ihren riesigen grünen Schirm über Tante Rosies Kopf streckte.
„Guten Morgen“, sagte ich über den voll gepackten Küchentisch hinweg.
„Hallo Mia, ich glaube, heute wird es etwas schwierig mit dem Frühstück!“
Damit konnte sie Recht haben, jedenfalls war der Weg zum Kühlschrank weitgehend durch den monumentalen Spiegel versperrt.
„Am besten, du ziehst dich schnell an, dann fahren wir zusammen in die Stadt und gehen noch irgendwo frühstücken, bevor deine Schule anfängt.“
Dies war eine gute Alternative zu dem momentan herrschenden Chaos, auch wenn mir bei dem Gedanken, in Tante Rosies rotem Sportflitzer vor der Schule vorzufahren, nicht wirklich wohl war.
Wir hatten nur noch ungefähr eine Stunde Zeit, bis der Unterricht anfing, so dass ich mich in Windeseile in meine Klamotten schmiss, Wotan in den Garten schickte und meine Schulsachen zusammenpackte. In weniger als einer Viertelstunde saßen wir nebeneinander in Tante Rosies Cabrio.
In unserem winzigen Städtchen war die Auswahl der Frühstücksmöglichkeiten ziemlich beschränkt. Tante Rosie sah mich an.
„Wo soll es hingehen?”, fragte sie und steckte den Zündschlüssel ins Schloss.
„Ich weiß nicht recht. Viel Auswahl haben wir nicht und, um ehrlich zu sein, ich war hier noch nie auswärts frühstücken.“
Wenn ich es recht bedachte, war ich eigentlich noch nie auswärts frühstücken gewesen, aber ich beschloss, dass ich das Tante Rosie ja nicht unbedingt auf die Nase binden musste.
„Gestern