Während Wotan mit ekligen Schlabbergeräuschen seinen Napf leerte, überlegte ich, was ich mit dem angefangenen Tag machen sollte. Ich konnte Kathi eine Nachricht schicken und fragen, ob sie zu mir in die Einöde kommen wollte. Kathie war so etwas wie eine Freundin. Die einzige, die ich bis jetzt hier gefunden hatte. Wir gingen in die gleiche Klasse.
Sie war nett und versuchte ständig, mich in ihre Landcommunity zu integrieren. Aber heute hatte ich mehr Lust, den Rest des Tages allein zu verbringen und es bis zu Tante Rosis Ankunft auszukosten, mein eigener Herr zu sein. Es war ein wunderbar warmer Tag, den ich gut mit einem Buch im Liegestuhl auf der Terrasse verbringen konnte.
Wotan schaute von seinem Fressnapf auf und blickte mich an. Es half nichts; zuerst musste das Fellmonster vor die Tür. Ich beschloss, mit ihm einen kurzen Spaziergang zu wagen und holte Leine, Halsband und Maulkorb. Leine und Halsband kannte er schon, der Maulkorb hatte heute Premiere.
Wotan blickte misstrauisch, als ich mich ihm mit meiner Ausrüstung näherte. Ich überlegte; war es günstiger, ihm zuerst das Halsband und dann den Maulkorb umzulegen, oder umgekehrt? Ich entschloss mich für das Halsband und streifte es ihm kurz entschlossen über. Wotan hielt still. Nun noch der Maulkorb – ich wollte nicht mit ansehen, wie Wotan auf unserem ersten gemeinsamen Ausflug eine unschuldige Kreatur verspeiste, die ihm versehentlich in den Weg lief.
„Na, Wotan“, redete ich beruhigend auf ihn ein, um auch mir Mut zu machen.
„Schau mal hier, ein Maulkorb. Der wird dir gut stehen.“
Zu meiner Überraschung hielt Wotan still, als ich ihm den Maulkorb überstreifte. „Entschuldige mein Freund, aber das muss zu deinem und vor allem zum Schutz aller anderen Lebewesen sein“, erklärte ich ihm und befestigte die Leine am Halsband.
Am sichersten war es, wenn wir einfach durch den Wald streiften. Die Chance, dort auf andere Spaziergänger oder Radfahrer zu treffen, war relativ gering. Wenn Wotan neben mir ging, reichten seine Schultern bis zu meiner Hüfte, denn mit 1,60 m war ich nicht besonders groß. Hob er den Kopf, so konnte er mir fast in die Augen sehen. Im Zweifelsfall hätte ich seiner Körperkraft nichts entgegenzusetzen, auch wenn ich mich selber nicht als schwächlich bezeichnen würde. Blieb nur zu hoffen, dass er nicht beschloss, sich selbstständig zu machen. Wir traten hinaus, gingen durch unseren Garten um das Haus herum, verließen ihn durch die Hinterpforte und schlugen den Weg Richtung Wald ein, der unmittelbar hinter unserem Haus begann. Eigentlich war ich noch nie alleine im Wald spazieren gegangen. Wenn ich es recht bedachte, war ich, seit wir hier wohnten, noch nie dort gewesen, obwohl er direkt hinter unserer Tür lag.
Ein schmaler Pfad führte von unserem Gartenzaun durch eine kleine Wiese direkt auf den Wald zu. Wotan schien es eilig zu haben, den passenden Baum zu finden, denn er zog energisch an der Leine. „Mach mal langsam, Wotan!“, rief ich ihm zu, aber erwartungsgemäß hatte mein Appell keinen Erfolg.
Wir erreichten ein dichtes Laubdach und Wotan hob ohne zu zögern sein Bein am ersten Baum, der seinen Weg kreuzte. Offenbar pressierte es.
Während er sein Geschäft verrichtete, blickte ich mich um. Wir standen an einer Weggabelung. Der Weg führte zur Linken am Waldrand entlang Richtung Dorf, zur Rechten führte er in geschwungenen Linien den Hang hinauf. Wotan nahm mir die Entscheidung, in welche Richtung wir gehen sollten, ab. Entschlossen setzte er seinen Weg den Hang hinauf fort und mir blieb nichts anderes übrig, als ihm am anderen Ende der Leine zu folgen. Es wirkte, als ob ihm dieser Weg vertraut war – wahrscheinlich war dies eine der Routen, die sonst mein Vater mit ihm ging. Da das Fellmonster sich hier bestens auszukennen schien, beschloss ich, ihm die Führung zu überlassen und wir trotteten eine ganze Weile den Waldweg entlang.
Wotan hob in regelmäßigen Abständen das Bein oder schnupperte ausgiebig an den verschiedensten Stellen oder tat beides in umgekehrter Reihenfolge. Ich hing meinen Gedanken nach und fragte mich, ob meine Eltern wohl schon über den Wolken schwebten, als wir plötzlich und unvermittelt eine Lichtung erreichten, die an einen kleinen See grenzte. Mit einem Mal standen wir im glänzenden Sonnenlicht auf einer blühenden Wiese und kristallklares Wasser schimmerte uns entgegen.
„Oh, Wotan“, sagte ich begeistert, „das ist ja traumhaft hier.“
Wotan sah mich kurz an und steuerte dann auf das Ufer zu. Durstig trank er mit langen Zügen aus dem See. Ich ließ die Leine locker und setzte mich neben ihn.
Der Anblick des Sees vor einem Bergpanorama war atemberaubend und die Mittagshitze erzeugte ein unwirkliches Flirren über den winzigen Wellen, mit denen das Wasser ans Ufer gespült wurde. Nach der schattigen Kühle des Waldes spürte ich die Hitze umso deutlicher. Schweiß begann, in kleinen Bächen meinen Rücken herabzulaufen. Eine kurze Abkühlung konnte nicht schaden. Ich sah mich um. Es war weit und breit niemand zu sehen. Schnell streifte ich meine Schuhe, Jeans und mein T-Shirt ab und stand in Slip und BH am Ufer. Wotan schaute mich verwundert an.
„Wie wäre es mit einem kleinen Bad?”, fragte ich ihn und hatte auch schon einen Fuß eingetaucht.
„Scheiße, ist das kalt!”, entfuhr es mir. Das Wasser war eisig. Was hatte ich erwartet? Schließlich stand ich an einem Bergsee und es war noch nicht einmal richtig Sommer.
Während ich die Zähne zusammenbiss und einen weiteren Schritt ins Wasser machte, hörte ich Wotan hinter mir leise knurren.
„Nun spiel dich hier mal nicht als Sittenwächter auf!”, wandte ich mich zu ihm und bemerkte, dass er die Ohren spitzte und aufmerksam zum Waldsaum hinüberblickte, während er seine Lefzen hob und unverwandt weiterknurrte.
Ich folgte seinem Blick und erkannte am Rand der Lichtung zwei Gestalten, die sich auf den See zu bewegten. Das konnte doch nicht wahr sein. Ich stand halb nackt mit den Füßen im eiskalten Wasser, hatte ein Fellmonster an der Leine und zwei sorglose Spaziergänger näherten sich mir vollkommen unbefangen.
Inzwischen konnte ich erkennen, dass es sich um Wanderer im mittleren Alter handelte, die offenbar auch Rast am Ufer des Sees machen wollten. Wotan fixierte die beiden mit gesträubtem Nackenhaar.
„Ist gut, Wotan“, redete ich beschwichtigend auf ihn ein. „Das sind nur zwei Wanderer, kein Grund, hier so einen Terror zu machen.“
Die beiden Männer hatten uns auch schon erblickt, denn einer von ihnen hob winkend die Hand. Ich stapfte, so schnell ich konnte, aus dem Wasser und schlang Wotans Leine um einen kleinen Baum. Mit einem doppelten Knoten sicherte ich sie noch einmal sorgfältig, bevor ich mich nach meiner Kleidung umsah. Ich schaffte es gerade noch in meine Jeans zu schlüpfen, als die beiden Männer auch schon wenige Schritte vor mir standen.
„Hallo, schöne Frau, so alleine unterwegs?“
Der jüngere der beiden ließ seinen Blick ungeniert von meinem Gesicht zu meinem BH und zurück gleiten. Schnell griff ich nach meinem T-Shirt, das vor mir auf dem Boden lag, und streifte es über.
„Schade, gerade hast du mir besser gefallen.“ Der Ältere grinste mich unverschämt an.
Was für ekelhafte Kotzbrocken.
Das war genau der Typ Stammtischbruder, der der Schrecken jeder Bedienung auf dem Oktoberfest war. Zu Hause der solide Papa, ohne Muttis Aufsicht ein Ekelpaket. Fieberhaft überlegte ich, ob mir mein Handy, das in meiner hinteren Hosentasche steckte, eine Hilfe sein konnte. Aber wen sollte ich alarmieren? Der polizeiliche Notruf kam mir übertrieben vor. Die Typen waren zwar fies, wirkten aber nicht wie Verbrecher.
„Warum denn so schüchtern? Wir beißen doch nicht.“ Betont lässig streifte der Jüngere seinen Rucksack ab und ließ ihn neben sich ins Gras fallen.
„Ich wollte gerade gehen“, brachte ich hervor und schlüpfte in meine Schuhe. Falls die Situation aus dem Ruder laufen sollte, war ich nun für einen schnellen Sprint gewappnet. Die beiden Typen sahen nicht so aus, als könnten sie mit mir Schritt halten.
„Bleib