ist Ruh.
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest Du auch.
Ich las das Gedicht zweimal durch. Beim dritten Durchlesen blieb meine Aufmerksamkeit an den letzten Zeilen haften. „Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde, ruhest Du auch.“ Erst in diesem Moment begriff ich tatsächlich, dass ich heute dem Tod von der Schippe gesprungen war, und dass um ein Haar mein junges Leben ein plötzliches Ende gefunden hätte. Mit einem Mal erfasst mich eine unbändige Lebenslust.
Ich lebte!
Ich war nicht gestorben und hatte mein ganzes Leben noch vor mir. Ja, die Botschaft für mein eigenes Leben war klar und ich begann zu schreiben. Mein Stift flog über das Papier und ich füllte Seite um Seite, mit dem glühenden Bekenntnis, dass ich nicht vorhatte, in absehbarer Zeit für immer zu ruhen.
Die Stunde war zu Ende und der Gong ertönte. Ich klappte meinen Füller zu und faltete die Klausurbögen in der Mitte. Erst jetzt sah ich, dass der grüne Käfer noch immer auf meinem Tisch saß. Er hatte sich an die hintere Tischkante zurückgezogen und bewegte sich nicht. Ich nickte ihm zu.
„So, ich bin fertig. Du kannst jetzt nach Hause fliegen.“
Als hätte er mich verstanden, spreizte er die Flügeldecken, reckte seine Hinterbeine und flog los. Ich sah ihn durch das geöffnete Fenster verschwinden und blickte ihm nach, bis ich nur noch ein winziges Pünktchen im blauen Himmel erkennen konnte.
In der großen Pause war ich umringt von Mitschülerinnen und Mitschülern, die, aufmerksam geworden durch Lempels Bemerkung, hören wollten, welches „Missgeschick“ mir beim Bäcker passiert war. Mir war diese Aufmerksamkeit unangenehm und ich versuchte, das ganze so unspektakulär wie möglich zu erzählen. Heftig verschluckt hatte sich bestimmt jeder schon einmal und dass ich nur knapp dem Tod entronnen war, behielt ich einfach für mich. Tatsächlich erzielte ich damit die gewünschte Wirkung. Die meisten meiner Mitschüler setzten eine enttäuschte Miene auf, offenbar hatten sie eine spektakulärere Geschichte erwartet und schlenderten davon. Die Menge zerstreute sich schnell wieder und übrig blieben nur Kathi, Martin und Frank, die mich fragend ansahen.
„Das war die ganze Geschichte?”
Kathi zog zweifelnd eine Augenbraue hoch. „Deswegen wollte der Lempel dich die Arbeit nachschreiben lassen, weil du dich beim Bäcker verschluckt hattest?“
„Na ja, ganz so war es dann doch nicht“, gab ich zu.
„So, jetzt mal raus mit der Sprache.“ Die drei sahen mich erwartungsvoll an.
Und nun schilderte ich, was wirklich geschehen war. Angefangen beim Schlemmerfrühstück für zwei Personen, über das Stück Schinken, dass mir die Luftröhre blockiert hatte, bis hin zu meiner Ohnmacht und meinem wundersamen Erwachen. Nur bei meinem unbekannten Retter ging ich nicht zu sehr ins Detail. Irgendwie wollte ich diese Erinnerung ganz für mich behalten und nicht mit anderen teilen. Als ich mit meiner Schilderung zu Ende war, sah ich in drei entsetzte Gesichter.
„Oh Gott, Mia. Das war ja wohl wirklich knapp. Um ein Haar hätten wir dich hier heute nicht mehr gesehen!“ Frank machte einen ehrlich betroffenen Eindruck. Auch Martin sah mich bestürzt an. Und zu meinem Entsetzen machte er unvermittelt einen Schritt auf mich zu, nahm mich in den Arm und drückte mich kurz und heftig.
„Du lieber Himmel, das wäre ja schrecklich gewesen, wenn du mit einem Stück Schinken im Hals verreckt wärst.“
Um seine ganz offensichtliche Rührung zu überspielen, kramte er in seiner Jackentasche herum und zog ein Päckchen Zigaretten hervor. Lässig ließ er eine Zigarette aus der Packung hervorschnellen und bot sie mir an.
„Äh, danke, ich rauche nicht“, schlug ich sein Angebot aus. Er selber führte eine mit lässiger Geste zum Mund und zündete sie an. Wir alle drei sahen ihm dabei erstaunt zu. In der Schule und auch auf dem Schulhof war das Rauchen verboten. Offenbar hatte er das vollkommen vergessen. Bevor allerdings noch der Aufsicht führende Lehrer auf diesen offensichtlichen Verstoß gegen die Schulordnung reagieren konnte, läutete es zur dritten Stunde und die Pause war vorbei.
Martin trat seine noch kaum gerauchte Zigarette aus und wir machten uns zu viert auf den Weg ins Schulgebäude. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Bayern hatte ich das Gefühl, dass es hier Menschen gab, die sich um mich sorgten.
Kapitel 7: Das Wiedersehen
Eigentlich hatte mich Tante Rosie nach Schulschluss wieder mit ihrem schicken Flitzer abholen wollen, aber unerwartet fielen die letzten beiden Stunden aus. Ich überlegte, ob ich Bescheid geben und dann auf sie warten sollte, entschied mich aber, zu Fuß nach Hause zu gehen.
Der etwa halbstündige Weg, den ich ansonsten viel schneller mit dem Rad zurücklegte, würde mir Gelegenheit geben, nach diesem ereignisreichen Vormittag meinen Gedanken nachzuhängen und die Geschehnisse noch einmal in Ruhe für mich zu rekapitulieren.
Gedankenverloren machte ich mich auf den Weg, durchquerte das Städtchen und erreichte bald den Ortsrand. Hier entschloss ich mich, nicht der Bundesstraße zu folgen, sondern die reizvollere Alternative, die sich nur Fußgängern bot, zu wählen. Ich bog in einen Feldweg ein, der zwischen blühenden Wiesen und Äckern hindurch bis zur Rückseite unseres Gartens zu führte.
Ich war schon oft dort entlanggegangen, hatte aber, wie es mir schien, die Schönheit der Gegend noch niemals richtig bemerkt. Erst heute fiel mir auf, wie idyllisch die Landschaft war, in der ich lebte, und ich betrachtete die Natur um mich herum plötzlich mit anderen Augen. Die Mittagssonne schien heiß vom Himmel und tauchte alles in ein gleißend helles Licht, das die roten Mohnblumen und die blauen Kornblumen, die den Wegesrand säumten, leuchten ließ. Nie zuvor hatte ich bemerkt, wie viele Schmetterlinge die Wiesen bevölkerten. Heute schienen es tausende zu sein, die über den Blüten schwebten.
Ich schlenderte in der heißen Sommersonne dahin und freute mich darauf, Tante Rosie wieder zu sehen. Ich überlegte, ob sie es geschafft hatte, ihre diversen Kartons auszupacken und ich war neugierig, zu sehen, wo sie ihren ganzen Krempel verstaut hatte.
Bald schon erreichte ich den verlassenen Eulenhof und wurde unvermittelt durch schreckliches Getöse daran erinnert, dass das Gelände ja gar nicht mehr verlassen war. Offenbar kam hier mindestens ein Presslufthammer zum Einsatz, denn die sommerliche Mittagsruhe wurde durch ohrenbetäubenden Lärm unterbrochen. Mein Weg führte hinter dem Grundstück entlang, so dass ich unmittelbar an der Rückseite des Haupthauses vorbei ging und mich dem immer lauter werdenden Krach näherte. Die Fenster des Erdgeschosses waren weit geöffnet und ich konnte nicht anders und musste hinein sehen, um festzustellen, was die Ursache dieses infernalischen Lärms war. Auf Zehenspitzen versuchte ich, einen Blick zu erhaschen. Unglücklicherweise war ich nicht groß genug, um über die Fensterbank hinweg zu sehen. Ich sah mich suchend um und entdeckte in einem kleinen Gebüsch neben dem Weg einen groben Holzklotz, den ich kurz entschlossen zum Fenster trug. Er machte einen etwas morschen Eindruck, würde mich aber für einen Moment tragen können. Vorsichtig stellte ich mich auf ihn und hatte nun einen wackeligen Blick ins Haus.
Das Zimmer war voll gestapelt mit einer Unmenge von Umzugskisten. Es erinnerte mich sehr an den Flur an diesem Morgen bei mir zu Hause, denn auch hier war nur ein einziger schmaler Pfad zu erkennen, der sich zwischen den Kisten entlang schlängelte. Ein Grund für den Lärm war allerdings nicht zu sehen.
Ich schleppte meinen Holzklotz weiter und spähte durch das nächste Fenster. Der Krach wurde lauter, aber auch hier konnte ich keine Ursache erkennen. Der Raum war vollständig leer; lediglich ein alter Kronleuchter hing von der Decke. Mir war, als schwanke er ein wenig unter den Druckwellen des Lärms.
Am