„Was ist los mit dir? " fragte ich ihn ungeduldig. Sein ängstliches Getue ging mir langsam auf die Nerven. „Komm jetzt mit rein!”, befahl ich energisch.
Doch das Fellmonster verschwand mit eingekniffenem Schwanz unter dem Terrassentisch.
Auch gut.
Ich ließ den Feigling zurück und betrat das Wohnzimmer.
War am Morgen die Unordnung im Haus schon bemerkenswert gewesen, so war sie nun kolossal. Die ehemals verschlossenen Umzugskartons, die sich im Flur gestapelt hatten, waren nun weitgehend geöffnet, aber noch nicht ausgeräumt, so dass wir ungehinderte Sicht auf Tante Rosies Besitztümer hatten.
Ich sah Rasputin, wie er sich geschickt durch diesen Irrgarten schlängelte und Tante Rosie in Richtung Küche folgte. Ausgerechnet vor einem geöffneten Karton mit weißen, schwarzen und roséfarbenen Dessous holte ich ihn ein und glaubte ein kurzes Grinsen auf seinem Gesicht auszumachen, ansonsten ließ er sich höflicherweise keine Regung anmerken.
Wolf saß schon Schwanz wedelnd vor dem Esstisch, als wir die Küche betraten.
Der riesige grüne Schirm von Tante Rosies Stehlampe beherrschte wie am Morgen die Szene. Allerdings war sie nun eingeschaltet und beleuchtete die Stereoanlage, die immer noch auf dem Esstisch ihrer Bestimmung harrte. Lediglich der Computer war auf den Fußboden umgezogen und blockierte nun den Zugang zur Mikrowelle.
„Ach Kindchen, irgendwie bin ich heute nicht dazu gekommen, meine Sachen einzuräumen. Rasputin, ich hoffe, sie sind nicht zu anspruchsvoll. Wenn Sie so freundlich wären, die Musikanlage etwas zur Seite zu rücken, dann haben wir alle ausreichend Platz.“
Rasputin grinste mich an und hob erstaunlich mühelos Tante Rosies Stereoanlage vom Tisch. Er sah sich kurz im Raum um und entschied dann, diese neben den Computer auf den Boden zu stellen.
Tante Rosie hatte derweil drei Teller aus dem Hängeschrank über der Spüle genommen und diese nebst Besteck auf dem Tisch platziert. Überraschender weise köchelte tatsächlich Essen auf dem Herd und ein appetitlicher Duft strömte herüber.
„Ich hoffe, ihr mögt Coq-au-vin. Das ist eine meiner Spezialitäten“, erklärte meine Tante, während sie eine große Kasserolle vom Herd hob und zum Tisch trug.
„Oder sind Sie Vegetarier?”, fragte sie in Richtung Rasputin gewandt.
„Nein, nein“, versicherte dieser hastig. „Hühnchen in Rotwein ist eines meiner Lieblingsgerichte.“
„Na, dann Kinder, langt mal tüchtig zu.“ Tante Rosie sah Rasputin an.
„Junger Mann, Sie sind doch bestimmt noch keine zwanzig. Darf ich Sie fragen, ob Sie noch zur Schule gehen?“
Rasputin schaute von seinem Teller hoch, den er gerade mit einer ansehnlichen Portion beladen hatte. „Ich bin 19.“
Ich war Tante Rosie recht dankbar für diese Information, denn ich hatte mich bereits selber gefragt, wie alt der Typ eigentlich war. Mit seiner kraftvollen Statur und seinem üppigen Haar war er schwer zu schätzen. Neunzehn, nun ja, dann ging er ja vielleicht auch noch zur Schule.
„Ein Jahr muss ich noch“, antwortete er mit vollem Mund. „In der nächsten Woche steige ich im Gymnasium ins laufende Schuljahr ein.“
Ich musste husten. Damit hatte ich nicht gerechnet, ihn nun womöglich täglich auf dem Schulhof zu sehen. Erschrocken sahen er und meine Tante zu mir herüber. „Alles in Ordnung“, hustete ich. „Ich habe mich nur ein bisschen verschluckt.“
„Passiert dir das öfter? Dann solltest du vielleicht mal zum Arzt gehen!”, stellte Rasputin sachlich fest.
„Nein, nein“, hüstelte ich rasch. „Eigentlich verschlucke ich mich sonst nie.“
Rasputin sah mich zweifelnd an und öffnete zu einer Entgegnung den Mund, griff dann aber in seine Hosentasche und zog ein vibrierendes Handy hervor.
„Hey“, er hielt es an sein Ohr und lauschte. „Ja, ich bin gleich da“, war sein einziger Kommentar, bevor er das Gespräch beendete.
„Ich muss leider los“, sagte er zu Tante Rosie. „Danke für das Essen.“
Tante Rosie sah ihn enttäuscht an. „Wie schade, ich hätte gerne noch etwas mit Ihnen geplaudert und gegessen haben Sie auch fast nichts. Sie müssen mir versprechen, dass wir das noch mal wiederholen.“
Rasputin war schon aufgestanden und hatte Wolf mit einem kurzen Wink zu sich heran befohlen.
„Mach's gut, Mia. Immer schön kauen!“
Bevor ich noch etwas erwidern konnte, war Mister Cool aus der Tür.
Kapitel 9: Besucher
Ich saß in meinem Zimmer. Der Tag war lang und ereignisreich gewesen. Vor lauter Aufregung hatte ich keinen Gedanken an meine Eltern verschwendet, bis Tante Rosie in ihrem Lamento die beiden erwähnt hatte.
Vor mehr als zwei Tagen waren sie abgereist. Ich schaltete meinen Computer an und startete mein Mail-Programm. Neben einem ganzen Berg überflüssiger Werbung fand ich eine Nachricht von Kathi. Sie fragte, ob es mir gut gehe, nach dem Schreck vom Vormittag und ob ich ihr die Mathehausaufgaben schicken könnte. Hausaufgaben! Die hatte ich völlig vergessen! Ich antwortete kurz, alles sei bestens, könne ihr aber die Aufgaben nicht schicken, da ich den ganzen Nachmittag verschlafen hätte. Den Grund dafür ließ ich lieber unerwähnt.
Ich durchsuchte noch einmal die Mailbox. Vielleicht hatte ich ja die Nachricht meiner Eltern übersehen. Nichts war zu finden. Komisch. Ich schrieb eine kurze Mail an meine Mutter: „Hallo, seid ihr gut angekommen?”, und schickte sie ab.
Seufzend lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und sah auf die Uhr. Es war schon nach zehn Uhr abends, aber es half nichts; ich musste mich noch an meine Hausaufgaben machen. Suchend blickte ich mich um, konnte aber meine Schultasche nicht finden. Dann erinnerte ich mich. Ich hatte sie im Garten neben meinem Liegestuhl stehen lassen.
Im Garten war es stockdunkel. Ich stand auf der Terrasse und versuchte auf der Wiese den Liegestuhl und den Tisch auszumachen, an denen meine Schulsachen sein mussten. Außer ein paar schwachen schemenhaften Umrissen war nichts zu erkennen. Wollte ich mir nicht auch noch zum krönenden Abschluss des Tages einen Knöchel verstauchen, so war es besser, eine Taschenlampe zu holen. Ich drehte mich um, und mein Blick fiel in den Hausflur. Wahrscheinlich war das Verletzungsrisiko größer, wenn ich versuchte, inmitten des herrschenden Chaos eine Taschenlampe zu finden. Also musste es auch ohne gehen.
Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen und ertastete die Treppe, die von der Terrasse hinunter auf die Wiese führte. Nach zwölf zaghaften Schritten spürte ich Gras unter meinen Füßen und wandte mich in Richtung Gartenmobiliar.
Ein dunkler Schatten huschte wenige Meter vor mir über den Rasen. Ich war mir nicht sicher, aber von der Größe her konnte es Wotan gewesen sein. Wer sollte es auch sonst sein? Wahrscheinlich war er hinter mir aus der Tür heraus in den Garten entwischt, um noch mal das Beinchen zu heben.
„Wotan?”, flüsterte ich, um mich im nächsten Moment über mich selber zu ärgern. Was gab es für einen Grund zu flüstern? Schließlich war ich hier zu Hause.
„Wotan, komm her!”, wiederholte ich noch einmal mit fester Stimme, während ich mich weiter dem Liegestuhl näherte.
Der Schatten verschwand und ich erhielt keine Reaktion. Wahrscheinlich hatte ich mir alles nur eingebildet.
Vorsichtig tastete ich mich über den Rasen. Es war so dunkel, dass ich meine Füße beim Gehen nicht sehen konnte. Endlich stieß ich gegen etwas Hartes, das sich als Gartentisch entpuppte. Der Liegestuhl musste sich gleich daneben befinden. Ich tastete hinüber und zog erschrocken und mit einem schrillen Schrei meine Hand zurück. Sie hatte etwas Haariges gestreift. Starr vor Schreck blieb ich regungslos stehen. War der Schatten doch keine Einbildung gewesen? Eigentlich konnte es sich nur um Wotan handeln.
Diesmal