Claras Geschichte. Nieke V. Grafenberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nieke V. Grafenberg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844242218
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aufs Neue antanzen durfte.

      Aber dreizehn Gepäckstücke und ein Kind! Wenn Claras Mutter von jeher ein Hasenfuß war, wie hat sie die Flucht in den Westen geschafft? Wie hat sie es fertig gebracht, aus der Westzone noch einmal schwarz über die Grenze zu machen, wie Großmutter immer betonte? Zurück nach Dresden, wo die Russen längst saßen, um das beim Aufbruch vergessene Stammbuch und andere für den Rentenanspruch unverzichtbare Papiere zu retten?

      Mit dreizehn Gepäckstücken auf der Flucht - für Clara unvorstellbar. Hat Mutter den Sportwagen mitgezählt, in dem Clara auf einem Federbett saß? War sie wirklich die vierzehnte Bürde?

      „Macht, dass ihr fortkommt“, soll Claras Großvater angeordnet haben. Januar fünfundvierzig, der Monat neigt sich, als Mutter in klirrender Kälte mit Heerscharen anderer zum Flüchtling wird. An den Fluchtweg hat Clara keine Erinnerung, von überquellenden Zügen, von endlosen Fußmärschen ist die Rede. Aber sie sieht sich im Gitterbett stehen - Tante Toni, die Großvaters Schwester und Mutters Patentante ist, nimmt sie in Radebeul auf, sie bleiben bis Mai. Mutters Kusine Anni ist mit ihrem Winfried schon vor ihnen da. Sie hat, hört Clara die Großmutter sprechen, ein paar Tage früher von zu Hause fortgemacht. Wenig später stößt Gitta, die blutjunge Frau von Mutters gefallenem Bruder Josel mit ihren zwei Jungen dazu. Josel von Josef, Horstl von Horst, sein jüngerer Bruder hat Augen wie Sterne und wird, obwohl Lothar getauft, aus unerfindlichen Gründen Seppel genannt. Der Seppel ist dermaßen niedlich, dass Tante Gitta sich manchmal vergisst, sie muss ihn beim Wickeln vor lauter Liebe in beide Pobacken beißen. Doch sie schnappt so fest zu wie ihre Begeisterung groß ist – bis der Kleine ganz bitterlich weint. Die Augen von Claras Mutter glänzen verdächtigt, sie hat es mit ansehen müssen und mit dem Kleinen Mitleid gehabt. Weswegen, glaubt Clara, die Mutter so oft davon spricht wie von ihrem und Großvaters Holzklau im Bentheimer Wald.

      Als Gitta in Radebeul eintrifft, ist sie immer noch außer sich, um ein Haar hätte sie ihren Jüngsten verloren. Auf dem Bahnsteig wird Milch für die Kleinsten verteilt, und um etwas davon zu ergattern, ist sie mit Horstl an der Hand aus dem brechend vollen Waggon geklettert. Den Seppel lässt sie derweil in der Obhut der anderen im Abteil zurück. Als der Zug ohne Vorwarnung anfährt und sie sich schreiend an seine Verfolgung macht, lässt einer der Mitflüchtlinge das Fenster herunter und wirft ihr das Bündel von Kind direkt in die Arme.

      Ja, Glück gehabt Seppel, die Sippe rückt noch einmal enger zusammen - und wie es aussieht, vertragen sie sich.

      Für Clara bleibt vieles lange verschwommen, vor allem die Begriffe Vergewaltigung und Christbaum, der, als sie in Radebeul Zuflucht suchen, keineswegs der Weihnachtsbaum für das friedliche Fest ist. Als Lichterformation fällt so ein Christbaum vom Himmel, erhellt für die Bomber die Ziele. Tante Tonis Mann gibt nicht nach, er treibt Claras Mutter aufs Dach, damit sie sich das Feuerwerk aller Feuerwerke ansieht und die Nacht, in der Dresden in Schutt und Asche gelegt wird und Abertausende den Feuersturm nicht überleben, ihr Leben lang nicht vergisst.

      Und immer, wenn nach dem Einmarsch Russen sich blicken lassen, treibt er Frauen und Kinder ins Kellerversteck. Er schärft ihnen ein, in Bedrängnis nur polnisch oder die paar Brocken russisch zu reden, damit die Soldaten denken, dass sie Polen oder Ukrainer und keinesfalls deutsches Freiwild sind.

      Trümmer sind immer noch reichlich vorhanden, als Clara - sie muss um die zwölf sein - mit Mutter und Großeltern in die Ostzone darf. Tante Tonis Mann ist gestorben, sie wohnt jedoch noch am selben Fleck. Mit anderen in der ehemals hübschen Villa, wohin Mutter mit Großmutters Unterstützung seit Jahren halbpfundweise Kaffeebohnen und Kilos von Grundnahrungsmitteln schickt. Dazu Medikamente, die dort nicht aufzutreiben sind. Und in der Vorweihnachtszeit die unerlässliche Butter, das Mehl und das Backpulver, das Zitronat, die Mandeln und andere dringend erforderliche Gewürze. Riesenpakete jedes Mal - teure Pakete, beim Einpacken seufzt Claras Mutter. Doch trotz Mutters Seufzern, die heilige Anna legt für die Schwestern Immel, die treue Freundinnen Tante Tonis sind, ein Extrapaket Kaffee und ein Stück Butter mit in den Pappkarton.

      Tante Toni und ihre berühmten Dresdner Stollen - auch wenn Clara das Orangeat und das Zitronat in der Kindheit verabscheut, Mutter behauptet, kein anderer bäckt Stollen so köstlich wie sie. Mindestens einer und ein Exemplar mit Rosinen und Mohn stehen pünktlich zum Fest auf dem Kaffeetisch. Dazu eine Holzpyramide mit Schafen und Hirten und mit einem Jesuskind - das strahlt und streckt Clara die Arme entgegen. Drei Stockwerke hoch ist das Kunstwerk aus Tante Tonis Erzgebirge. Drei Könige tragen Geschenke. Sie führen Kamele am Strick und drehen Runde um Runde inmitten von Kerzen, die heißer brennen als der heißeste Wüstenwind - kommen aber nie an.

      „In der Ostzone nicht allzu teuer – und leichter zu kriegen als Butter und Obst.“ Dies Mutters Erklärung, als Clara sich wundert, dass Tante Toni so teuere Geschenke macht. „Geld ist genug da, denn irgendwann fing sie an zu verkaufen. Zuerst den Biedermeiersalon. Später das Silber, Besteck für Besteck.“

      Im Garten der Villa zieht Tante Toni Gemüse und Obst. Hält ein paar Hühner, die haben gerade den Zieps. Mit einem scharfen Küchenmesser schält Tante Toni die pelzige Haut von der Hühnerzunge.

      Sie essen die Eier und Hörnchen mit Quittengelee am eichenen Tisch vor dem Schrank mit dem Wurzelfurnier - später einmal soll er Mutter gehören. Wie der Nähtisch und allerlei Nippes aus Meißen – die besten Stücke schon lange versetzt.

      Was Clara sonst noch verinnerlicht hat: Das Karl-May-Museum ist ständig geschlossen, sie pilgert ein paar Mal vergeblich hin.

      Das Elbsandsteingebirge, nun ja, eine Pracht! In Slippern mit dünnen Sohlen, wie Clara sie trägt, nur recht und schlecht zu erwandern. Verdrießlich dabei, dass Konrad, der irgendwas mit Maschinen studiert und bei Tante Toni zur Untermiete wohnt, ausschließlich Interesse am Wandern zeigt. Wie hat er nur übersehen können, dass Clara ihm schöne Augen macht!

      SECHS

      Wenn Clara was mehr liebt als schwarzweiße Kühe, dann Küchen, die mehr als nur Kochnischen sind.

      Die erste Küche mit Bullerofen, mit Ausguck auf rasselnde Panzer und winkende Nachbarn im Haus vis à vis. Die zweite mit Großelternbett und Ohrensessel, in dem der Glatzenkönig Grimms Märchen vorliest. Der eckige Kochherd mit Handlauf – große und kleinere eiserne Ringe sind zu ungleichen Platten zusammengefügt, auf denen die Großmutter fettarme Kost zubereitet. Daneben der Kohlekasten, ein Riesenbrikett lugt daraus hervor.

      Fünfundzwanzig mal zehn Zentimeter - woher Onkel August das heute noch weiß? Er fuhr in Salzbergen auf einem Ausbesserungszug, und immer, wenn eine Lok repariert war, fand am folgenden Tag die Probefahrt statt. Dafür wurden Briketts auf den Tender geladen, von denen am nächsten Morgen nicht selten drei Viertel verschwunden waren. Die Bauern, die die Versorgungskantine der Bahn mit Eiern und Speck belieferten, hatten - im Gegenzug - sich im Schutz der Dunkelheit reichlich bedient.

      Was die können, kann ich auch, soll Onkel August gedacht haben, und was er im Sinn hatte, hat er dann kurzerhand ausgeführt. Fünfundzwanzig mal zehn Zentimeter - er lässt sich von seiner Schwester die passende kohlschwarze Stofftasche nähen und bringt seither nicht nur sein Verpflegungsdeputat aus Wurst, Margarine und Brot mit heim. Oh nein, an jedem Werktag der Woche schleppt er ein einzelnes Riesenbrikett an, gewaltig genug, einen Tag lang den Herd und die Küche zu heizen.

      Links wenn man eintritt der Küchenherd. Im Eck gegenüber das Großelternbett, wo Clara nach Gutdünken schwitzen oder mit Horstl nach Ostereiern suchen muss - mit Großmutters Hilfe deckt er ein Holzauto unter dem Kopfkissen auf. Das Fußende ist scheint’s Claras Revier, was sie dort fand, das weiß sie nicht mehr. Aber an häufig eiternde Mandeln erinnert sie sich, an die Schrecksekunde von nasskalten Wickeln auf glühenden Waden. Und an die Sonnenbrille zum Schutz ihrer Augen bei Masern, obwohl das dem Großelternbett gegenüber liegende Fenster vorsorglich abgedunkelt ist. Ungefilterter Lichteinfall könnte im schlimmsten Fall Claras Sehkraft beeinträchtigen - so oder ähnlich hat sich der Doktor, der Clara das Kinderheim eingebrockt hat, ausgedrückt. Seither zupft Mutter die olle Decke, die sie vor das Fenster gehängt hat, immer aufs Neue ein letztes Mal zurecht.

      Wenn Clara die Treppe hinaufstürmt und zwischen Kochherd und Bett die