Claras Geschichte. Nieke V. Grafenberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nieke V. Grafenberg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844242218
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angeknöpft sind. Claras Mutter sitzt auf einer Bank in der Nähe des Beckenrands und passt auf. Sie ist mit dem Strickzeug beschäftigt und hebt ab und zu ihren Kopf, um zu sehen, ob Clara Fortschritte macht. Mutter hat Onkel Hans um Unterstützung gebeten, er und die Brüder schwimmen wie Fische, während sie selbst gern am Beckenrand bleibt. Onkel Hans holt Clara ins Schwimmerbecken - damit sie nicht absäuft, stützt er ihren Bauch mit der Hand. Er hat jedoch wenig Geduld mit dem Kind, würde wohl viel lieber hauchzarte Wäsche auswaschen. Aber die Zeit der Seidendessous ist unwiderruflich vorbei, er hat Straßburg verlassen und wohnt jetzt mit ihnen über der Druckerei.

      Im Winter folgt Paul ihm aus Straubing nach, auch er durfte gehen und stellt ab sofort keine Tabakwaren mehr her. Jetzt blicken drei Brüder im selben Schlafraum durchs Dach auf die selben Sterne. Onkel Paul ist geduldig mit Clara. Manchmal formt er ihr Störche und Hasen aus Stanniolpapier, manchmal ritzt er auch Tulpen und Sonnenblumen in die Innenwand leerer Zigarettenschachteln. Und ist das Kunstwerk vollbracht, hebt er mit dem Federmesser, das sonst keiner hat, Blüten und Blätter so kunstgerecht an, dass sie plastisch erscheinen.

      Doch das Wichtigste ist: Clara kann schwimmen, bevor sie mit knapp sechs Jahren in die Katholische Volksschule hinter dem Kuhm kommt. Zu Fräulein Rösner, die, wie Großmutter auch, ihre Haartracht zum Nackendutt zwirbelt - aber eindeutig weniger Haare hat.

      FÜNF

      Kann es sein, fragt sich Clara, dass im Traum, den sie träumt, die Vergangenheit längst als Bildwert festgelegt ist? Kann es sein, dass ihre Vorstellungskraft sich von Anfang an die Bilder ausmalt, die sie am liebsten wiedersehen möchte?

      Und wenn es so ist, warum sieht sie, wie sie nach einem Autounfall mit einem Riegel Schokolade auf ihrem Bauch aufwacht? Kann es denn wirklich sein, dass das bisschen Naschwerk, das der englische Tommie als Trostpflaster hinterließ, den Reiz der Erinnerung ausgemacht hat? Oder war es die Mutter, die so offensichtlich erleichtert bei ihrem Kind auf der Bettkante saß? Wie ein Pfeil kam Clara zwischen dem Gasthaus Feldmann und dem Friseursalon aus der engen Passage geflogen. Als das rollende Tarnfarbenmonster sich vor ihr aufbaut, ist alles zu spät - der Aufprall hat Clara bewusstlos gemacht.

      Wenn es denn stimmt, dass die Einbildungskraft sich vorwiegend vorgefertigte Bilder aussucht, warum sieht Clara sich dann an einem Geländer aus Eisenstäben turnen - in einer Lagerhalle der Druckerei hat sie mit Horstl in Bergen von Abfallpapier gewühlt.

      Auf dem Klo zieht sie Fetzen starken Papiers aus der Schürze über dem Kleid. Faltet sie, bis sie kantig sind und steckt sie sich in die Scheide, weil das Gefühl beim Baumeln und Kippeln ein unbekanntes, ja aufregendes ist.

      Wo hat Horstl, fragt sich Clara, falls er dabei mitgemacht hat, sich seine Papierecken hingesteckt? Und was an dem Bild ist dermaßen wertvoll, dass sie, im ganz persönlichen Labyrith, ihm eine Nische eingeräumt hat? Und warum vergisst sie, zu Hause davon zu erzählen? Sagt ihr die innere Eingebung, dass Mutter den Kochlöffel nimmt, wie sie es gern tut, wenn sie sich keinen Rat mehr weiß? Wie damals spürt Clara, dass sie nicht schuldig ist. Sie hört sich jammern und weiß: Kein einziges Mal von den vielen hat sie die Kochlöffelschläge auf Rücken und Hintern verdient.

      „Keiner rührt mir das Kind an. Das ist allein Mariechens Sache.“

      Großvater braucht nur die Stimme zu heben und niemand wagt sich zu widersetzen. Den Anlass weiß Clara nicht mehr, auch nicht, welcher der Onkel sie züchtigen wollte. Aber Großvaters warnender Blick in die Runde, sein erhobenes Kinn mit den silbernen Stoppeln - das hat sie im Innersten aufbewahrt, es muss sie beeindruckt haben.

      Mit fünfzehn soll Claras Mutter die Tochter ein letztes Mal schlagen. Das heißt, sie hat ihren Arm schon zu dem Zweck erhoben, als Clara sie rasch bei den Handgelenken packt und nicht ein Jota nachgibt.

      „Hure!“ presst Mutter zwischen den Zähnen hervor, wie eine Furie ist sie im Nachthemd im Wohnzimmer aufgetaucht, nur weil Clara in Neuenhaus mit Klassenkameraden gefeiert hat. Weil es bei Tarner so lustig war und sie im Nebenzimmer zu Schallplatten tanzen durften, hat sie die Zeit vergessen und den einzigen Abendzug verpasst. Hat die drei Kilometer nach Hause verkrampft und im Nieselregen auf einem Moped-Gepäckträger aushalten müssen, was der Dorfpolizist der Mutter gepetzt hat. Doch da ist er ihr wohl zu nahe getreten. Dass er Clara nebst Schulkameraden verwarnt hat, schafft Mutter keine Probleme. Doch als er ihr zu verstehen gibt, dass sie als Witwe besonders achtgeben müsse, damit ihre Tochter nicht auf die schiefe Bahn gerät, hat er sich eindeutig zu weit vorgewagt.

      „Kümmern Sie sich um die eigene Tochter!“ will Mutter ihm kurz und bündig beschieden haben - zu Claras verwundertem Stolz und nicht einmal grundlos, denn ist seine Tochter, was Männer angeht, nicht schon seit Monaten Dorfgespräch?

      Dass eine Hure sich mit Männern abgibt, ist kein allzu großes Geheimnis, das hat Clara aus Andeutungen Erwachsener aufgeschnappt. Doch was stellt die Hure mit diesen Männern an? Clara hat ihren Onkel Hans zwar das eine Mal mit heruntergelassener Hose, aber nur von hinten gesehen. Sie hegt den vagen Verdacht, dass sich vorn eine Sache befindet, so anders geartet als ihre, dass sie unter allen Umständen unter Bettdecken oder Kleidungsstücken verborgen bleiben muss. Hätte sonst, als sie eingeschult war, die Mutter einer Mitschülerin ganz grundlos verlangt, dass beide Mädchen just dann ihre Augen abwenden, als sie dem Baby-Bruder die Windel aufmacht? Na, und die lieben Freundinnen später? Die sind auch nicht viel besser, feixen nur hinter vorgehaltener Hand. Wie also soll Clara sich ausmalen können, was die von Mutter heraufbeschworene Hure außer tanzen noch treibt? Eine Hure ist eine verdammt schlechte Frau, soviel reimt sich Clara zusammen. Aber was sie darüber hinaus mit Sicherheit weiß: Sie hat allen Grund, beleidigt zu sein, denn was immer die Mutter sich ausmalt, sie hat nur getanzt. Der Abend mit Freunden im Gasthaus ist absolut harmlos gewesen.

      Über die geschlechtliche Liebe kann Clara in ihrer Familie so gut wie nichts lernen - das Plätzchen für Sexualität in ihren verschachtelten Kammern ist immerhin eingerichtet, bleibt aber lange verwaist. Nicht einmal versehentlich sieht sie die Großeltern sich berühren, und dass Mutter sie jemals innig umarmt hat, daran glaubt Clara nicht. Und ganz gleich, wie sehr sie sich auch bemüht, ihre Augen offen zu halten, die Onkel herzen die Liebsten vor anderen nicht.

      Und Mutter? Auch später, als Clara erwachsen und, wie sie meint, in der Liebe erfahren ist, gelingt es ihr nicht, sich die eigene Mutter beim Akt vorzustellen. Hin und wieder wird sie sich fragen, wie ihre Mutter überhaupt zu einem Kind gekommen ist, zweifellos hat sie zu dem Zweck die körperliche Liebe nur erduldet. Nummer drei Strich siebenundsechzig im Pensionat, Zucht und Ordnung bei keuschen Nonnen - mit Sicherheit kennt Onkel Hans die Geschichte, die Claras Mutter erzählt, als Mutter und Kind sich einmal sehr nah sind. Bestimmt zieht der Bruder die Schwester auch deswegen auf:

      Während draufgängerische Freundinnen nachts tuschelnd und kichernd vom Fensterbrett des gemeinsamen Schlafsaals in die Grünanlagen hopsten, zum Rendezvous mit dem Bösen, hat ihnen Nummer drei Strich siebenundsechzig mit aufgerissenen Haselnussaugen hinterher geschaut. Aus Angst vor der zu erwartenden schrecklichen Strafe, und weil das junge Mariechen nach eigener Aussage weder jemals beherzt noch neugierig war.

      Ob Mutters Selbsteinschätzung zutreffend war? Clara zögert, sie muss überlegen. War Mutter ihr wenig beherzt oder gar ängstlich vorgekommen? Nun ja, sie weiß nicht so recht: Immer bei Donner und Blitz stand die Mutter zur Flucht bereit. Während Clara und Großmutter seelenruhig vom Fenster aus dem Gewitter zusahen, raffte Mutter in kürzester Zeit alle wichtigen Unterlagen zusammen. Eine brüchige Reißverschlussmappe mit Heiratsurkunden, Rentenbescheiden und Flüchtlingsausweisen unter den Arm geklemmt, stand sie im Flur auf dem Sprung, bis das Unwetter aus und vorbei war.

      Ja, und vor Ämtern hatte sie Angst, erinnert sich Clara. Jeder Gang zum Kreisamt nach Nordhorn, jeder zu stellende Antrag war für Mutter ein Kampf mit sich selbst gewesen. Fuhr sie nun hin oder ließ sie es bleiben? Nicht nachvollziehbare Rentenbescheide, Beihilfen, die sie so dringend benötigten ... Mutter fürchtete noch den kleinsten Beamten. Denn der - das hatte sie die Erfahrung gelehrt - würde erst einmal unfreundlich feststellen, dass ihr Anspruch, auch wenn er rechtmäßig war, zumindest vorerst nicht gelten konnte. Dass erst ein Papier aus dem Polnischen übersetzt, anschließend beglaubigt