Claras Geschichte. Nieke V. Grafenberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nieke V. Grafenberg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844242218
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Hand und schwenkt sie zur Decke, während der Rest der Anwesenden zusieht und gutmütig lacht. Und wie der Ami sie auf und nieder schwingt, mit seinem freundlichen Jungengesicht, kann er es nicht lassen, ihr bei jedem Heben und Senken mit dem Mittelfinger den Zwickel des Schlüpfers auszustreichen, unter dem Kleid, wo keiner es sieht, wieder und wieder. Clara weiß nichts, doch sie spürt instinktiv, das darf er nicht tun - dass das, was er da mit ihr anstellt, auf keinen Fall richtig ist.

      Als Clara wieder festen Boden unter den Füßen hat, rennt sie heim in die Küche und trinkt Wasser vom Hahn, bis die Mutter sie packt und wegzieht. Sagt nichts von dem, was sie nicht begreift und von dem sie doch weiß, dass es falsch ist. Steigt am folgenden Tag mit zwei Kindern, die sie nicht kennt, in seinen Amischlitten ein und lässt sich durch Schüttorf kutschieren. Lachend und winkend, bei offenem Verdeck. Als sei sie und nicht er der Sieger.

      DREI

      Hans putzte seine Schuh, Hans putzte seine Schuh ...

      An den Text, an die Melodie des Liedes, das Clara artig vorträgt, hat sie, wenn überhaupt, eine vage Erinnerung. Sie singt den Refrain auf den Knien eines beinahe erwachsenen Mädchens, das wie Clara für ein paar Wochen an die Nordseeküste verbannt ist. Endlose Tage im Schutz der Dünen, bis über die Augen in Decken gehüllt des pfeifenden Windes wegen. Verschickt ist das hässliche Wort. Mit Gewissheit ist Mutter Schuld, denn war es nicht sie, die dem Doktor verriet, dass Clara von morgens bis abends auf Achse und deshalb so mager ist? Und dass sie ständig am Wasserhahn hängt?

      Der Schüttorfer Doktor scheint sich mit Quecksilberkindern nicht so gut auszukennen. Mit Tieren wohl auch nicht, er beugt sich zu Clara herunter und spricht mit erhobenem Finger salbungsvoll: Dass Enten allein so verschwenderisch Wasser saufen. Und dass sie doch keine Ente ist.

      So kommt es, dass die magere Kleine im Aufenthaltsraum des Erholungsheims imaginäre Schuhe auf Hochglanz bringt. Hans putzte seine Schuh ... Clara singt und mimt, weil die größeren Mädchen Quälgeister sind - wenn sie nachgibt, hat sie am ehesten Ruhe. Sie ist sich bewusst, sie bringt sie zum Lachen, weil sie die Jüngste und Putzigste ist. Und damit sie nachgibt und singt, verspricht man ihr später fürs Bett noch ein Märchen.

      Irgendwann findet sich Clara im Schlafsaal wieder. Der Atem hitzig und faul, jedes Schlucken ein Stich in den Schlund. Ihr Lager wird neben dem Lichtspalt zum Zimmer der Aufseherin aufgeschlagen. Die kommt in der Nacht, legt ihr oben die kühlende Hand auf die Stirn und führt unten das Fieberthermometer ein. Die Tage und Nächte ein reichlich verwackeltes Bild, erst als die Kur an der Nordsee zuende und Clara zum Umpusten schwach ist, wird sie nach Hause entlassen.

      Das ungläubige Gesicht ihrer Mutter, als Clara mit einem Namensschild um den Hals aus dem Zug gehoben wird. Und auch wenn er nichts dafür kann, Mutter nimmt sie bei der Hand und geht den Doktor beschimpfen:

      „Jesus Maria - Erholung? Was haben die an der Nordsee bloß mit dem Kind angestellt!“

      Auch wenn nicht belegt ist, woher Claras Krankheiten stammen - Mutter verwünscht die Verschickung, sie bildet sich ein, dass Clara sich dort im Heim ihre Mundfäule eingehandelt hat. Sie fiebert und stinkt aus dem Mund, und um den Belag zu entfernen, muss Mutter mehrmals am Tag Claras Mundhöhle mit einem scheußlichen Saft auspinseln. Und die eigene gleich mit, auch wenn es brennt, der Arzt hat zur Vorsicht geraten.

      Und immerzu vor dem Schlafengehen quälen Clara die Würmer. Und Clara quält Mutter: „Die Wörmer, es beißt!“

      Abend für Abend klaubt Mutter die drängelnden Schmarotzer vom zwickenden Darmausgang, während Clara am Fußende des Bettes ihr Erleichterung suchend den Hintern entgegen reckt. Nicht lange, und eine Schar talgiger Wurmleichen klebt vom Fingernagel zermalmt am Bettpfosten. Und morgens, wenn Clara die Augen aufmacht, ist die Stelle am Pfosten geräumt für den kommenden Abend.

      Ist das Kindererholungsheim wirklich Schuld an Claras Gebrechen? Oder war es das Fleisch, das die Großmutter anfangs nur unwillig zubereitet, weil es vom Pferdeschlachter kommt? Von dem sie aber zugeben muss, dass es so furchtbar gar nicht schmeckt? Oder – an sich unvorstellbar - hat etwa Großmutters Kochkunst versagt?

      Später als Schulkind, als Clara die Masern durchleidet, muss sie lange Tage das Großelternbett in der Küche hüten. Mit Sonnenbrille - zum Schutz ihrer Sehkraft hat Mutter eine aufgetrieben. Die Brille quält Clara, sie sitzt nicht und drückt auf den Ansatz der Ohren. Sie zwickt auf der Nase, bis Mutter die scharfen Kanten der Stege umwickelt hat. Womit? Wie soll Clara das wissen? Sie sieht, wie sie nach einem Bad viel zu fest in ein Badetuch eingeschlagen wird, das reicht bis zum Kinn und weiter. Sie schwitzt und leidet und jammert und klagt. Will nichts wie weg, bleibt aber vom Tuch gebändigt am selben Fleck. Denn Mutter und Großmutter sind sich wieder mal einig:

      „Schwitzen ist heilsam, bleib zugedeckt, Kind! Oder willst du, dass wir noch einmal von vorn anfangen müssen?“

      Nach so einer Schwitzkur - Clara ist schlapp und nicht in der Lage, sich zu entziehen - wälzt Mutter sie auf die Seite. Um abzulenken von dem, was sie vor hat, plappert sie Nichtigkeiten und zieht mit der linken Hand Claras Nachthemd zurecht, während - auf hinterhältigste Art und Weise – die rechte dem Kind ein Stück glitschiger Kernseife hinter den Schließmuskel drückt und die Pobacken zuhält, damit das Abführmittel nicht unversehens zurückflutschen kann.

      Das unappetitliche Wuseln von handspannenlangen, geriffelten Würmern im beinahe flüssigen Stuhlgang - Clara sieht zu, wie Mutter der Großmutter kurz den Nachttopf unter die Nase hält und anschließend ganz schnell wegschafft. Würmer dick wie der Bleistift in Claras Griffelkasten - im Kindheitstraum allemal. In Wirklichkeit vielleicht kürzer und ausgehungerter, auch wenn das für Clara nun keine Rolle mehr spielt.

      Heute weiß Clara natürlich, wie Würmer im Magen- und Darmtrakt zustande kommen, sie weiß um verdorbene oder verunreinigte Kost. Im Kindheitstraum aber erfährt sie von alldem nichts, im Kindheitstraum herrscht einzig das wiederbelebte Bild. Vielleicht noch die Atmosphäre, Clara fragt sich, ob es möglich ist, dass Seele und Verstand nicht die gleiche Erinnerung haben? Denn sie spürt, was sie sieht - so drastisch, als sei es erst gestern gewesen, so gewaltig, dass ihr bisweilen zum Fürchten ist. Großmutters Erschütterung, als sie auf Spuren im Gulasch weist, ihre Lippen stülpen sich vor, ihr ist nicht nach Lachen zumute. Denn Fußspuren zart und gar fein zieren die schlanke Fettschicht.

      „Mäuse - Jesus Maria! Nur ein einziges Mal den Topf auf dem Fensterbrett ...!“

      Wie Eisscherben auf einer Pfütze lässt sich die gelbliche Fettschicht entfernen. Großmutter hebt sie mit einem stumpfen Messer ab und … serviert einen mageren Gulasch.

      VIER

      Mutter ist Mutter. Kein Körpergeruch, sie bewegt sich gemessen und schwitzt nicht. Braunes Haar, braune Augen, die, selbst wenn sie lächelt, den Anflug von Schwermut bewahren. Dreiunddreißig Jahre und Elfenbeinhaut, an der Luft wird sie gleichmäßig braun - so rasch, dass Clara sie später beneidet.

      Im Gegensatz zu ihren Brüdern soll Claras Mutter zeitlebens den Hang zur Melancholie aufweisen. Als die Zeit dafür reif und Clara bereit ist, in ihre Geschichte einzutauchen, blättert sie Fotoalben durch und bildet sich ein, frühe Anzeichen dafür bereits in Mutters Kinder- und Jugendbildnissen zu entdecken. Die Skepsis in Mutters Augen, ihr - wenn überhaupt - reserviertes Lächeln. Der Gedanke erschreckt sie, und plötzlich scheint Clara begreiflich, dass Mutter ihr Abschlussjahr bei den Nonnen als schönstes und glorreichstes hingestellt hat. Und dass sie, wenn der Bäckergroßvater nicht den Schlussstrich gezogen und die einzige Tochter zurück nach Hause und hinter den Ladentisch beordert hätte, einem Leben im Kloster den Vorzug vor Heirat und Clara gegeben hätte.

      „Ja, ja, schon klar - Nummer drei Strich siebenundsechzig im Pensionat“, hört Clara Onkel Hans nicht zum ersten Mal lästern. Ein Poltern hat sie geweckt, betreten muss sie mit ansehen, wie er es mit Mühe zum Schlafsofa schafft. Und wie, als Mutter sein Schwanken Seemannsgang nennt, er blitzschnell die Hose herunter lässt und ihr seinen nackten Arsch präsentiert.

      Mutter, geistesgegenwärtig, baut sich vor seiner Kehrseite auf und nimmt Clara damit die Sicht.

      „Verdammt