„Du hast mir deine Gefährtin auf dem Silbertablett präsentiert“, hallten Ramóns Worte in seinem Inneren nach. Sein gequälter Blick glitt zum Bett.
Er war schuld – an allem, was Lara durchgemacht hatte.
„Manches hinterlässt Spuren, die man nicht sehen kann, John. Das hab ich diese Woche am eigenen Leib erfahren“, sagte Arabella ungewohnt leise.
Um nicht darüber reden zu müssen, flüchtete er in die Küche. Ara schien anderen immer bis ins Innerste zu sehen. Mit dem Naturell einer Pippi Langstrumpf vermuteten das die wenigsten bei ihr, aber er wusste es besser.
„Hey!“, rief Arabella ihm nach, „Wenn du was zum Futtern suchst, sieh im Ofen nach! Ich hab dir was warm gehalten. Vinz hatte doch für alle im Hauptquartier gekocht.“ Etwas leiser ergänzte sie: „Aber wir haben ja kaum einen Bissen herunterbekommen, während Ramón dich irgendwo gefangen hielt und wir nicht wussten, ob du überhaupt noch lebst.“
Und alle hatten nach ihm gesucht. Leider war Lara entgegen jeder Warnung schon bei Tageslicht aufgebrochen – allein. Durch die symbiotische Verbindung zu ihm hatte sie als Einzige die Möglichkeit gehabt, ihn, sozusagen aus dem Bauch heraus, zu finden. Doch dabei war sie Ramóns Leuten förmlich in die Arme gelaufen.
Eins stand fest: Ohne ihn wäre Lara nie in die Klauen dieses skrupellosen Verbrechers geraten, ohne ihn nie zwischen die Fronten der Vampirwelt.
Er war schuld.
Mit einem riesigen Teller Essen kam John zurück ins Schlafzimmer.
„Ara, ich hab eine Bitte. Kannst du bei Lara bleiben, wenn ich nachher mit den anderen losziehe? Vielleicht wacht sie ja auf und …“
„Klar, mach ich doch gern für dich.“
Etwas in ihrer Stimme irritierte ihn, und als er neben Ara ans Bett trat, entdeckte er den Grund.
„Du weinst ja, Ara.“
Auf seinen Kommentar hin boxte sie ihn, augenscheinlich mit all ihrer Kraft, in die Schulter. Sein Teller wackelte noch nicht mal.
„Das ist deinetwegen, du blöder Hund! Ich hatte eine Scheißangst, dass du nie wiederkommst!“
Er hatte auch nicht mehr erwartet, diese Sache zu überleben. Um die Situation zu überspielen, zupfte er an einem ihrer Zöpfe. „Aber wie du siehst, bin ich zurück und beim nächsten Pokerspiel kannst du gern wieder erfolglos versuchen, mich über den Tisch zu ziehen.“
Ara boxte ihn noch mal, lächelte aber wieder.
„Ich werde Lara nachher in einen leichteren Schlaf versetzen. Falls sie Hunger bekommt oder …“
„Ja, ja, keine Sorge. Dann füttere ich sie und flöße ihr Alvas isotonische Drinks ein. Aber da ist noch was anderes, um das du dich kümmern musst, John.“
Er schob sich im Stehen eine Gabel Pasta nach der anderen in den Mund und brachte deshalb nur ein „Hm?“ heraus.
„Sieh dich mal hier um“, begann Arabella zögernd, „oder im Wohnzimmer oder in jedem anderen Raum.“
Sein flüchtiger Blick schweifte kurz umher.
„Wieso? Meinst du, ich muss mal wieder Staub wischen?“
Ara lächelte, aber es wirkte traurig.
„Nein. Was ich meine, ist: Der Platz, den eine neue Frau einnehmen sollte, ist noch belegt.“
Er ließ die volle Gabel sinken und schaute sich noch mal im Zimmer um, diesmal länger. Seine Schultern sackten nach unten und er atmete tief durch. Langsam beugte er sich zum Nachtkästchen und strich gedankenverloren über den kleinen Bilderrahmen mit Elisabeths Porträt.
„Du sollst sie ja nicht aus deinem Gedächtnis löschen, Großer, aber versuch doch mal, das alles mit Laras Augen zu sehen.“
Sie stand auf und legte eine Hand auf seinen Arm.
„Wir sind hier eine große Familie. Ich helfe dir ausräumen, wenn du so weit bist.“
Er atmete ein weiteres Mal tief durch, griff nach dem kleinen Bild und legte es behutsam in Arabellas Hand.
„Alles, bis auf dieses Bild. Würdest du das für mich tun?“
„Okay, aber ich bring die Sachen erst mal ins Lager. Dann kannst du später in Ruhe entscheiden, was du damit machst.“
Arabella stellte sich auf Zehenspitzen und verwuschelte – mal wieder – seine Haare.
„Und heute Nacht holst du ihn dir, Großer! Dann kann dieses Monster nie wieder eine Frau entführen.“
So wie Lara und Alice und Arabella selbst, ergänzte er in Gedanken.
Eine Träne rollte über Aras Wange. Offensichtlich hatte das Echo ihrer Vergangenheit sie erwischt. Er wollte sie wieder lächeln sehen und meinte mit einem Augenzwinkern: „Vinz kann schon mal ein Rezept für rohes Herz raussuchen. Oder magst du es lieber gut durchgebraten?“
„Igitt, Ramóns verdorbenes Fleisch würde ich nicht mal an einen Hund verfüttern.“
Ara war für ihn wie eine kleine Schwester in dieser Wächterfamilie und sie benahm sich ihm gegenüber, als sei er ihr großer Bruder – na ja, oder auch ihr Bobtail oder Basset. Er fragte sich, ob Lara bereit wäre, ihr Leben hinter sich zu lassen, um auch Teil dieser Familie zu werden. Doch nach ihrer Reaktion im Auto hegte er da starke Zweifel.
Kapitel 3
Johns Taktik ging auf.
Während Ramón seine Mörderbande vor dem leeren Beta-Hauptquartier sammelte, um es zu stürmen, folgte Agnus Johns Vorschlag und brachte die Wächter hinter den Gesetzlosen in Stellung. Damit die Täuschung nicht auffiel, ließ Elia funkgesteuert abwechselnd allerlei Lichter brennen und stellte sogar den Rasensprenger an.
Die Wächter waren zwar zahlenmäßig weit unterlegen, dafür hatten sie, wie von John erhofft, das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Ein weiterer Trumpf war Vinz, dieser exzellente Scharfschütze, der sich auf dem Dach des Beta-Stützpunktes positionierte und einen Treffer nach dem anderen landete.
Und obwohl Ramón seine Leute als lebende Schutzschilde benutzte, fand Vinz mit eiskalter Präzision immer wieder eine Lücke, um den Blutfürsten zu treffen. Kein Wunder, denn Vinzenz hatte noch eine Rechnung mit Ramón offen. Der hatte nämlich damals Ara mit ihrer neugeborenen Tochter Susi verkauft und auf einen anderen Kontinent verschleppen lassen.
Leider merkte John im Kampf recht schnell, dass sein Körper noch nicht zu hundert Prozent wiederhergestellt und er nicht wirklich fit war. Doch alle Wächter schienen in dieser Nacht ein wachsames Auge auf ihn zu haben und ihm den Rücken freizuhalten – dahinter steckte sicher Agnus.
John kämpfte sich in Richtung von Ramón vor, der sich feige hinter anderen verschanzte. Bald stellte der Fürst aber fest, dass die Lage kritisch wurde und ihm das auch nicht mehr half. Ab da versuchte Ramón, mit seinem Leibwächter als Deckung, zu flüchten. Doch Agnus war nicht umsonst Anführer, und außerdem wusste er genau, was John vorhatte. Er schnitt Ramón mit zwei anderen den Weg ab und trennte ihn von seinem Leibwächter Hassan. So war es John möglich, Mann gegen Mann mit Ramón zu kämpfen. Vinz hatte vorher mit genügend Gewehrkugeln dafür gesorgt, dass das Kräfteverhältnis zwischen ihnen ausgeglichen war.
Am Ende schleifte John den Blutfürsten zum Swimmingpool des Beta-Standortes. Ramón hatte Lara mit ironischen Bemerkungen auf den Lippen zweimal beinahe ertrinken lassen und John hatte gefesselt mit ansehen müssen, wie sie immer mehr Wasser schluckte und verzweifelt gegen das Ertrinken ankämpfte. Dieser Sadist Ramón sollte am eigenen Leib spüren, was er ihr angetan hatte.