Abstufung dreier Nuancen von Grau. Kristiane Kondrat. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kristiane Kondrat
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783946046325
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Sie die Nachtschwester, ziehen Sie die Notbremse, tasten Sie die Vernarbung ab.« Ich schlafe wieder ein, die Schwestern schweben irgendwo durch den Raum, Schwester Oberin, oben steht der Große Bär, den wir vergeblich anrufen: Kurz vor meinem Traum oder bereits darinnen schmiede ich Fluchtpläne.

      Ich weiß nicht, welches der beiden so unterschiedlichen Prinzipien ausschlaggebend gewesen ist für meinen endgültigen Entschluss auszubrechen, das Tag- oder das Nachtprinzip, das Traumschweben ohne Krücken oder die harte Arbeit tagsüber im Treppenhaus. Sobald der Nachtfalter im Morgengrauen verschwunden ist und die weißen Tagesschmetterlinge sich noch nicht entpuppt haben, nehme ich heimlich meine scheintoten Kleider aus dem Schrank. Ich werde sie wieder zum Leben bringen, sie werden sich wieder bewegen. Die neugierigen Frauen schlafen noch, die Frischoperierte stöhnt ab und zu im Traum. Ich möchte in ihre Träume nicht eindringen, lasse sie alle schlafen, ohne einen Blick auf ihre schlafenden Gesichter zu werfen, möchte ihre Träume nicht beeinflussen, meine Absichten niemandem übertragen, meine Fluchtpläne nicht verraten. Da ich mit den Krücken keinen Lärm machen möchte, kann ich mich mit diesen sperrigen Plastikkonstruktionen unter dem rechten Arm nur sehr langsam fortbewegen, indem ich mich mit der linken Hand an dem jeweiligen Bettrand festhalte. Auf dem Flur muss ich nicht mehr so viel Vorsicht üben.

      Die Treppe hinuntergehen habe ich in den letzten Tagen reichlich geübt, sie bereitet mir keine großen Schwierigkeiten mehr. Unten angekommen, bleibe ich vor dem Ambulatorium stehen, um mich ein bisschen auszuruhen. Die Tür steht einen Spalt offen. Ich nähere mich der Tür, um einen Blick in den dahinterliegenden Raum zu werfen.

      Vielleicht sitzt sie immer noch da, die violette, zusammengeschnürte Frau mit dem blassen Jungen neben sich. Wer weiß, ob man ihr den Jungen wieder zurückgebracht hat, es sah damals so aus, als hätte man ihn für immer weggebracht. Vielleicht aber sitzt er wieder neben seiner Mutter und fürchtet sich. Oder die violett zugeschnürte Frau sitzt noch immer hier und wartet auf ihn. Durch den schmalen Türspalt sehe ich die Spitze eines schwarzen Schuhs, kann aber nicht feststellen, ob es ein Damenschuh, ein Herrenschuh oder ein Kinderschuh ist.

      Sie hatte ganz harmlos und unscheinbar dagesessen, stumm eingepuppt. Mit unbeteiligten Fischaugen saß sie auf ihrem Klappstuhl, ins Leere stierend, sie saß ihr zerrinnendes Warten ab, regungslos wie in der Fotografie einer trostlosen Bahnhofshalle, in diesem wandumstellten Wartezimmer. Ein müder Schein des schrumpfenden Tages fiel durch die Fensterscheibe herein. Als er weitergezogen war und im Raum das elektrische Licht angeknipst wurde, weiteten sich plötzlich die Wände und strebten auseinander. Die in ihrer violetten Mitte festgeschnürte Frau wartete ihr raumträchtiges Warten zwischen den sich weitenden Innenwänden. Sie saß stumpf und unbewegt, nur ein klitzekleines Lauern in den Augenwinkeln des noch tiefschwebenden Meerestiers war da, ein Bläschen, das hochstieg, kurz auftauchte und an der Oberfläche platzte. Ihr Blick mit dem geborstenen Lauern sah aus wie der eines Kraken: Ab und zu zuckte das Meerestier zwischen den Aquariumwänden.

      Die Sprechstundenhilfe war schon lange nicht mehr im Türspalt erschienen, um einen Namen auszurufen oder die mannigfaltigen Geschehnisse zu verkünden, die sich da draußen abgespielt haben mussten, die sich lange vorher angekündigt hatten, weil sie ständig sich ablösende Kunden, aber in keiner Weise kundig sind. Die Kunde wird sie jedoch hier nie erreichen, sie warten immer wieder vergeblich.

      Der blasse, dicke Knabe neben ihr, der stilldicke Knabenstill, blass und fromm, er saß im Schweben, der Sohn eines Kraken. Er war mit seinem Klappstuhl verwachsen, der Klappstuhl schwebte mit. Die Mutter, in rosa Söckchen gezwängt, mit violettstrotzenden Adern, in denen das verbrauchte Blut pulsierte. Die Füße mit den rosa Söckchen waren eingezwängt in enge pechschwarze, glänzende Lackschuhe, einer davon entschieden in die linke Zimmerecke weisend.

      Mit der kohlrabenrechten Schuhspitze, raumteilend und präzisierend, wies sie in eine bestimmte Richtung: Von ihrer Schuhspitze ging eine Linie aus, die den wartenden Raum in zwei Warteteile trennte. Es gab nun nach dieser Einteilung die rechts von der Schuhspitze Wartenden und die links von der Schuhspitze Wartenden. Die Hüften der Frau aber flossen fliederfarben und weit auseinander und übergossen sich unter der Schürze des modischen Dirndls. Aus dem Brusttuch kroch schließlich der langerwartete Regenwurm heraus, die Blindschleiche taub und stumm, es könnte auch eine kleine Schlange gewesen sein, ich glaube, es war eine Schlange. Das Tier schlängelte sich hoch, über den lilagespannten Busen nach unten, schlang sich um die festgeschnürte Taille, so fest, dass die Hüften bei jeder Bewegung immer weiter auseinanderzulaufen schienen, der Fladenrock ergoss sich und überschwemmte den ganzen Fußboden.

      Man hatte es versäumt, die Überschwemmung einzudämmen, das Aquariumviolett in seine Schranken zu weisen, man hielt es immer noch für harmlos und ignorierte es, rosa und fliederfarben, wie es war, mit violett durchschimmernden Adern. Dann breitete es sich wie ein unflätiger Fladen aus und feuchtete die wenigen Möbelstücke an, die im Raum standen. Giftige Düfte stiegen hoch, da man es versäumt hatte, sie rechtzeitig zu neutralisieren, weil der spitze Schrei dazwischengekommen war, unerwartet hereingeplatzt durch die linke Wand.

      Der Schrei hatte alles weggewischt, alle Möglichkeiten der Abwehr lahmgelegt, so dass die Gegenstände im Raum andere Farben bekamen, die Geräusche und Wörter eine andere Klangfarbe, auch die kleinsten kriechenden Laute, das Knistern, Räuspern, Hüsteln, Scharren, alles wurde untereinander vertauscht und unkenntlich gemacht, die weißen Wände waren violett, die violetten Hüften der eingeschnürten Frau gewitterblau. Der blasse Knabe schrak zurück. Neuankömmlinge drängelten zur Tür herein und ergossen sich ins Wartezimmer, lösten sich in der dunkelvioletten Feuchtigkeit auf, des Knaben weißes, glattgebügeltes Hemd leuchtete durch, brav und still saß er in seiner schwarzen Hose, mit dem Klappstuhl verwachsen, klapp und still stand der Knabenstuhl da, einsam zwischen den anderen Stühlen, schwarzweiß stumm saß der Knabe, mit einem gipsverlorenen Lächeln im Barockengelgesicht, der dicke, stille Knabe in des Wartezimmers Ecke, sockenrosa, wachsam die Mutter daneben, mit großen, zusammengezwängten Brüsten unter dem bunten Tuch.

      Die Tür wurde draußen mit Tesafilm zugeklebt, auf dass keiner mehr hereindränge oder sich unerlaubt entferne, nur ein leiser Summton erhob sich darauf, sank, fiel und blieb liegen vor den angefeuchteten Schuhspitzen von irgendjemandem, der da war ein Wartender oder eine Wartende. Nach dem Schrei hörte sich das Säuseln und Summen wie die Stille an, die darauffolgende, erwartungsvolle, als Stille gemeinte Stille, wie Fliegeralarm mitten im Frieden. Dieser Warnton überheulte das Klappern der Schlange. Nach so vielen Verfälschungen, räumlichen und farblichen Mutationen achtete keiner mehr auf die fliederfarben- und violettgemusterte Schlange, die man sonst kaum hätte übersehen können. Nur der stille, dicke Knabe nahm sie für einen Augenblick wahr: Einen Augenblick stand Entsetzen in seinem Gesicht. Dann wurde es wieder engelhaft ruhig, er wird sich getäuscht haben. Er hatte sich jedoch nicht getäuscht: Die Schlange meldete sich nur, solange die anderen wegschauten, sie zeigte sich nur dem stillen, blassen Knaben, solange die anderen mit ihren Sinnen abwesend waren. Allein der Knabe war schwarzweiß geblieben und hatte nicht die tiefviolette Farbe des Raums angenommen wie die anderen Wartenden.

      Als keiner mehr hinschaute, stürzte sich die Schlange hundeartig mit einem Satz auf das Stuhlbein des Knabenklappstuhls und biss ein Stück Holz aus. Sie bellte den Knaben kurz an und verschwand, sobald die anderen, vom Bellen wachgerüttelt, aufschauten. Es sah so aus, als wäre nichts geschehen im spätvioletten Raum. Sie alle dachten, sie hätten sich getäuscht, das Stuhlbein des Knabenklappstuhls jedoch war angebissen, es fehlte ein Stückchen Holz, eine kleine helle Wunde war im dunkelbraun gestrichenen Vorderbein sichtbar.

      Die Wartenden waren bereits wieder eingeschmolzen worden in die violette Masse, als die Schlange ein zweites Mal angriff. Sie schnappte nach dem schwarzen Lackschuhfuß des Knaben, das braune Stuhlbein jedoch schlug aus mit seinem beschlagenen Huf und traf die Schlange mitten auf die Stirn, so dass sie jaulend zurückweichen musste.

      Da keiner hinschaute, griff sie wieder an, diesmal ganz sanftesanft, mehlgepudert kam sie wieder und verstellte ihre Stimme, säuselte süßviolett mit schmaler Zunge, so dass ihr der Knabe für einen entscheidenden Augenblick glaubte, sich ihr auf die Art zuwandte, die man den Normalfall nennt und Antwort gab auf eine unflätige Knabenart, es aber im nächsten Augenblick bereute, denn die Schlange biss zu. Zum Glück