Abstufung dreier Nuancen von Grau. Kristiane Kondrat. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kristiane Kondrat
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783946046325
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ohne es jedoch ganz zu erreichen. Schwestern: Ich weise jeden Gedanken einer möglichen Verwandtschaft entschieden zurück. Die keinesfalls mir verwandten Schwestern können das absolute Weiß nicht erreichen. Ich würde sie draußen auf der Straße nicht wiedererkennen, wiedererkenne sie nur hier, wo sie in diesen Wunsch nach Weißsein eingepackt sind.

      Das vorige Mal, als ich freiwillig hierhergekommen war, lag links von mir eine späte Studentin, Mitte Dreißig, die mit blutigem Ernst ihre heiligen Kühe auf der weißen Bettdecke weidete. Die Kühe waren von dem gleichen gräulichen Weiß der Bettdecke. Diese sich stets ereifernde Frau, die keine Ruhe finden konnte, da sich ihre Gedanken ständig im Kreis drehten und ein Wort das andere verfolgte, ohne es jemals zu erreichen, verfügte über so viel Humor wie ein von der Wichtigkeit seines Tuns überzeugter osteuropäischer Parteifunktionär mitten im Kalten Krieg. Parolen, von denen ich dachte für immer befreit zu sein, pfiffen wie Gewehrkugeln an meinem linken Ohr vorbei und schlugen an die rechte Wand, die sie wiederum zurückschlug an die linke Wand, die sie auch nicht haben wollte, so dass die alten Sprüche wie ein wiederholt verirrtes Echo auf den Kunststoffboden in der Mitte des Zimmers mit Krach aufschlugen und sperrig dalagen, so lange, bis die Putzfrau kam und sie beseitigte. Einmal war eine der Schwestern darüber gestolpert, hatte Mühe, ihr Gleichgewicht wiederzufinden, und stand da wie eine beleidigte Lehrerin, die die Schüler mit Kreide beworfen hatten, fragte laut und spitz, wer es gewesen sei. Niemand wollte es gewesen sein. Ich weiß nicht, wie die Studentin aussah, ich hatte ihr Gesicht nie wahrgenommen, nur ihre Stimme ist mir, wie eine Narbe, im Gedächtnis geblieben. Und wenn sie nicht immer wieder ihr Alter ins Gespräch gebracht hätte, so als müsse sie ständig beweisen, dass es ihr nichts ausmachte, so spät noch Erstsemester zu sein, hätte ich diese Verspätung gar nicht wahrgenommen oder sie als etwas Selbstverständliches betrachtet.

      Mit hartnäckiger Neugier und Zudringlichkeit versuchte sie immer wieder bei den bis zum Kinn unter weißen Decken Liegenden Weltanschauungen festzustellen, ihnen Bekenntnisse zu entlocken. Schräg gegenüber lag eine junge Dolmetscherin, die mit ihrem Familienalbum beschäftigt war. Sie lag in ihrem dunkelbraunen Haar, das das ganze Kissen bedeckte, die ganze Zeit so, als hätte sie sich nach einer schweren Anstrengung gerade fallenlassen, und ordnete tagein, tagaus die Fotos ihrer beiden Kleinkinder chronologisch ein, reagierte kaum auf die interrogativen Attacken der Studentin, weshalb jene auch das Interesse an ihr verlor und sie in Ruhe ließ. Neben der Dolmetscherin, genau mir gegenüber, lag eine ältere, stets Boulevardzeitung lesende Schreibwarenladenbesitzerin aus der Innenstadt. Sie schaute ab und zu von ihrer Zeitung auf und warf schmale grüne Blicke aus einem braungefalteten Gesicht. Jedesmal, wenn sie in der Zeitung einen Artikel über hohe Prozentsätze an Ausländerkriminalität entdeckte, kreiste sie die Schlagzeile mit einem Kugelschreiber mehrere Male dick ein, hob die Zeitung hoch und zeigte sie meiner Bettnachbarin zur Rechten, einer jungen Türkin.

      Die junge Türkin, ein etwa achtzehn- oder neunzehnjähriges Mädchen, blass und dunkeläugig, war kurz nach meiner freiwilligen Ankunft aus einem anderen Zimmer mit dem Bett hereingefahren worden. Sie blieb länger als alle anderen bereits hier Anwesenden. Eine ganze Woche lagen wir zu zweit in einem halbleeren Zimmer einen Teil unserer Zeit ab, bis neue Patientinnen hinzukamen.

      Einige Tage lag zu meiner Linken, an der Stelle der späten Studentin, die entlassen worden war, eine Frau undefinierbaren Alters, deren Ehemann jeden Tag Unmengen von Süßigkeiten und Kuchen anschleppte, die die undefinierbare Frau, ohne mit der Wimper zu zucken, verputzte. Sie wolle ihren Mann nicht kränken, sagte sie, er würde am nächsten Tag mit neuen Süßwaren anrücken und dürfe nichts mehr vom Vortag vorfinden.

      Als die späte Studentin aber noch auf ihrem Platz gelegen hatte und stets auf der Suche war nach dem Klassenfeind und nach Gesinnungsgenossinnen, verharrte ich stundenlang, das linke Ohr fest ans Kissen gedrückt, die krankenhausweiße Decke über das rechte gezogen. Oder ich lag mit geschlossenen Augen da und war somit nicht ansprechbar. Die Worte der Studentin klangen so, als müsse sie sich ständig rechtfertigen und gleichzeitig vergewissern, dass sie auf dem richtigen Weg war, wo immer er auch hinführen sollte.

      Sooft jemand bereit war, ihr zuzuhören, wusste sie etwas von sich zu erzählen. Im Gegenzug erwartete sie Bekenntnisse und wollte Meinungen hören, aber nur solche, denen sie zustimmen konnte, andere akzeptierte sie nicht.

      Mit Staunen musste ich feststellen, wie die Besitzerin des Schreibwarenladens aus der Innenstadt auf das Werben der Studentin einging, wie willig sie ihr entgegenkam, wie sich die beiden, zwar nicht in der Mitte, jedoch in ihren Gemeinsamkeiten, trafen und einen geheimen Bund schlossen, wie sie das ganze Krankenzimmer unter ihren Einfluss bringen konnten. Es schien so, als wollten sie Herrschaft ausüben und zwischen diesen vier weißen Wänden keine andere Meinung gelten lassen als die, mit der beide einverstanden waren: Es entstand eine Art Krankenzimmerdiktatur, ausgeübt von einer Koalition der Extreme.

      Da ich meine Abneigung beiden gegenüber nicht verbergen konnte, hatte ich einen schweren Stand. Erst als sich die beiden Koalitionspartner gefunden hatten und mit angeregten Zwiegesprächen und dem gegenseitigen Beschnüffeln intensiv beschäftigt waren, gab es eine Pause der Entspannung, die jedoch nicht von langer Dauer war, da sich die beiden nicht weiter mit sich begnügen wollten, sondern eine Expansion anstrebten.

      Es kamen mir die abgestandenen Vorurteile hassentbrannter Gartenzwerge frontal entgegen und von links die strapazierten Floskeln, die die Hausfassaden im Reich der lebenden Toten trugen, die die Menschen mit den traurigen Gesichtern auswendig lernen und täglich wiederholen mussten, die wie verknöcherte starre Äste krächzten, die keine Triebe mehr schlagen, die der Wind nicht mehr wiegen kann. Es klang possenhaft und aufgesetzt, was die verspätete Lenin-Anhängerin von sich gab, sie schien aber von ihren Losungen und Spruchbändern überzeugt zu sein. Alle heiligen Kühe, an die keiner mehr glaubte, ließ sie los, halbverhungerte Tiere zitierte sie auf die Krankenhausdecke. Während sie ideologische Kuharbeit leistete, suchte die Papierwarenhändlerin ihrerseits nach schlagkräftigen Beweisen für ihre winkeligen, unbeleuchteten Gedankengänge. Ein- oder zweimal am Tag richtete sie sich auf und hielt uns und der ganzen Welt die Boulevardzeitung mit einer eingekreisten Schlagzeile wie einen letzten Trumpf entgegen, ein nicht widerlegbares, endgültiges, unumstößliches Argument, das beweisen sollte, dass sie im Recht, dass ihre Meinung, nun gedruckt, bestätigt sei. Sie litt unter der Angst, es werde bald eine Hungersnot ausbrechen, wenn weiterhin Menschen von außen ins Land kämen, und schlug immer wieder mit fettgedruckten, balkengroßen Schlagzeilen auf all jene ein, die dies bezweifelten.

      Die beiden Frauen kamen sehr gut miteinander aus, man hätte fast von einem Harmonieren sprechen können, wenn ihre Gemeinsamkeiten nicht von so kriegerischer Natur gewesen wären. Sie waren beide aus verwandten Eislandschaften gekommen. Hier in diesem Zimmer hatten sie sich getroffen und ihre Zusammengehörigkeit erkannt. Als sie kurz hintereinander entlassen wurden, atmete ich auf. Die Süßigkeiten verschlingende Frau kam und ging wieder, und eines Tages wurde auch die junge Türkin mit ihrem Bett aus dem Zimmer gerollt. Den leeren Platz füllte man mit einem frischbezogenen Bett aus, in das am gleichen Nachmittag eine neue Patientin unter die weiße Bettdecke kam.

      Die neue Patientin, eine schmale, filigrane Person mit kurzgeschnittenem, dunkelblondem Haar, war Operationsschwester von Beruf und kannte sich im Krankenhausbetrieb sehr gut aus. Sie fand auch heraus, was mit der jungen Türkin geschehen war: Das Mädchen habe die vergangene Nacht in einem kleinen Zimmer am Ende des Flurs verbracht und die ganze Zeit geschrien, erzählte die Operationsschwester, die nun Patientin war. Man müsse immer Bares bei sich haben, um die Nachtschwester davon zu überzeugen, dass man ein Schmerzmittel brauchte, das türkische Mädchen habe das nicht gewusst, vielleicht hatte es gedacht, dass es sich hier nicht gehörte, sagte meine nun einzige Bettnachbarin. Ich bin aber immer noch fest davon überzeugt, dass die junge Türkin bei einem Bestechungsversuch sehr empört und unsanft zurechtgewiesen worden wäre: Im gleichen kantigen Ton, in dem ihr die weißen Schwestern jeden Tag geantwortet hatten, wenn sie sich traute, etwas zu fragen. Waren die krankenhausweißen, uns nicht verwandten Schwestern aber milde gestimmt, so war ihr Ton nur herablassend und nicht schroff: Das verängstigte Mädchen war dankbar dafür.

      Später erfuhren wir noch, dass man sehr wohl auf die Schreie des Mädchens reagiert habe: Die Nachtschwester sei einige Male in ihr Zimmer gerannt und habe geschimpft: Sie solle doch nicht so