Diesmal bin ich nicht freiwillig hierhergekommen. Damals aber war es, so unglaubwürdig es auch klingen mag, freiwillig gewesen. Als ich endlich gehen durfte, das große Holztor hinter mir geschlossen hatte und auf der Straße stand, mitten auf der lebhaften Straße mit den vielen Läden, den vielen Leuten, die mir entgegenkamen, und jenen, die mich überholten, an mir vorbeigingen, als ich dastand und frei war zu gehen, wohin ich wollte, schüttelte ich mit einer heftigen Kopfbewegung den Krankenhausgeruch ab, den letzten Hauch von Desinfektionsmitteln, der in meinem Haar hängengeblieben war. Mit einem Kopfschütteln war alles weg, und ich habe seitdem nie wieder daran gedacht.
Jetzt liege ich wieder da, in einem Bett unter der weißen Zimmerdecke. Damals schon hatte mich die Vorstellung erschreckt, irgendwann wieder hier in diesem Zimmer liegen zu müssen, dass es irgendwann soweit sein könnte, dass ich hier ankomme wie der Läufer im Ziel. Rechts die Fensterfront, Ausflucht meiner Blicke, Landschaft, die in einem weißen Rahmen verschwimmt und untergeht, wenn es dunkel wird. Die schlimmste Krankenhauszeit, wenn es draußen dunkel wird. Im Zimmer wird das kranke gelbliche Licht angeknipst, ein unendlicher Abend beginnt, der keine richtige Nacht werden will, sich dagegen sträubt, in die Nacht überzugehen.
Ich kann jetzt meinen Kopf wieder nach beiden Seiten drehen, wage es aber nicht, mich im Zimmer umzuschauen, die Betten neben mir zu erforschen, fürchte, dass links von mir die späte Studentin sich mir zuwenden könnte mit einem forschenden Blick und einem ideologieschweren, heftigen Schwall von Fragen. Sie könnte jetzt, wie ich da so wehrlos liege, mir alle schmutzigen Kühe Indiens an den Kopf werfen, wenn sie wollte. Mir gegenüber könnte sich die alte Papierwarenhändlerin in ihrem Bett aufrichten, die heutige Ausgabe der Boulevardzeitung hochhalten und mir eine mit Kugelschreiber dick eingekreiste Schlagzeile entgegenstrecken. Sie könnte die Zeitung mit den Fingerspitzen an zwei Enden hochhalten, sie nach links und nach rechts schwenken und sie jedem zeigen, der sie sehen will, und auch jenen, die sie nicht sehen wollen, sie als letzten Trumpf einsetzen, jubilieren, als schlagenden Beweis zeigen, schwarz auf weiß, nicht zu widerlegen, triumphierend, Hammerschlag, Punkt.
Ich weiß nicht, ob jene Frauen wieder hier im Zimmer liegen, es ist ein Vorteil für mich, dass mein Nacken noch etwas steif ist, ich sie nicht sehen und wahrnehmen muss. Ich fürchte, dieselben Stimmen zu hören – und befehle meinen Ohren, ihre Tätigkeit vorläufig einzustellen. Sie folgen meinem Befehl nur halbherzig, ich höre ständig ein Murmeln durch den Raum schwirren, es kommt von unten, hebt sich bis knapp unter die weiße Zimmerdecke, schlägt immer wieder an die Decke, bis es sich Wunden holt. Ich schiele so lange zum Fenster, bis es ganz flüssig und dunkel ist. Es sind selbständige Stimmen ohne Besitzer, die noch vereinzelt als Sprechblasen zur Decke steigen.
Heute hat mir eine jener weißuniformierten Frauen geholfen, mich im Bett aufzurichten, was mir sehr peinlich war, auch deshalb, weil ich mich so ungeschickt angestellt habe. Sie ist sehr in Eile gewesen, es ist ihr viel zu langsam gegangen, ich muss ihr recht geben, es ist furchtbar langsam gewesen, ich habe mich kaum bewegen können und ihre Geduld über die Maßen strapaziert, worüber sie schließlich sehr ärgerlich geworden ist, und das mit Recht. Ich habe keinen guten Willen gehabt. Sie hat mich aufgefordert, guten Willen zu zeigen, ich habe es immer wieder versucht, meinen ganzen Willen zu mobilisieren, der Wille aber hat nicht gewollt, wie ich es gewollt habe und wie es die mit mir nicht verwandte Schwester gewollt hat. Jedesmal, wenn ich versucht habe, guten Willen zu zeigen, hat es verdammt weh getan. Ich weiß, dass mich die Schwester für einen Feigling hält, und kann nichts daran ändern, habe aber erleichtert festgestellt, dass weder die späte Studentin noch die Papierwarenhändlerin aus der Innenstadt hier sind, es sind ganz andere Patientinnen.
Die Unbekannte mir gegenüber will gleich wissen, wie es war und warum und ob der Arzt und wenn ja, wie er geschnitten habe. Ich täusche Müdigkeit vor und schließe die Augen. Sie wird mir ihre Fragen noch zweimal zuwerfen und sich, da ich die Bälle nicht aufgefangen habe, von mir abwenden, was mir sehr angenehm ist. Die Frau links von mir aber will immer wieder wissen, wie es zu dem Unfall gekommen sei. Sie versucht auf verschiedene Weise, es aus mir herauszubekommen. Vergeblich. Übrigens weiß ich es selbst nicht. Ich weiß von diesem Tag gar nichts mehr, erinnere mich nur an die Tage davor, an alle Tage davor, nur an diesen einen, den es dennoch gegeben haben muss, nicht mehr.
An der Wand gegenüber hängt ein Gekreuzigter, der tödlich Gefolterte, der an allen weißen Krankenzimmerwänden hängt. Bei meinen Kirchenbesuchen als Kind hatte ich es nie so richtig wahrgenommen, dass der Mann, der am Kreuz hängt, furchtbar leidet, ein Kruzifix war für mich zu heilig, um in ihm die Darstellung eines schmerzlichen, langsamen Sterbeprozesses zu sehen, es war kein Mensch, der da an Händen und Füßen angenagelt hing, es war das Göttliche schlechthin, Gesichtszüge und Wunden des Mannes waren nur Symbole, standen für etwas anderes, etwas, das man auswendig lernen und abends vor dem Einschlafen aufsagen musste, im Bett auf den Knien halblaut vor sich hinflüsternd, den Kopf nach oben gewandt. Dahin, wo er sein müsste, der in Dunst, Wolken und Licht wohnende alte Mann mit dem unendlich langen weißen Bart, der, selbst unsichtbar, auf einem unsichtbaren Stuhl mit hoher unsichtbarer Lehne auf einer sichtbaren Wolke thronte. Er hatte gütige blaue Augen und war in einen blauen Mantel gehüllt. Es könnte jede Wolke gewesen sein, die ich tagsüber am Himmel sah, ich wusste aber nie, welche es war.
An kalten Winterabenden zog ich mir im Knien die Decke über die Schulter, wenn ich betete. Nach den auswendig gelernten Sprüchen, die ich schnell ableierte, kam ich zu meinen ganz persönlichen Anliegen an den unsichtbaren alten Mann mit den blauen Augen. Ich hatte viele kleine Wünsche und einen großen, den ich jeden Abend ängstlich wiederholte: Dass meine Mutter, die ich sehr liebte, nie sterben und immer bei mir bleiben möge. Der alte Mann mit den himmelblauen Augen hatte mir versprochen, er werde das veranlassen, und er hat lange Zeit sein Wort gehalten, bis ich eines Tages das Beten verlernt habe. Dann hat er sein Versprechen vergessen, es war keiner mehr da, ihn daran zu erinnern.
Seitdem habe ich mich nicht wieder bei ihm gemeldet. Jetzt spüre ich die Blicke des an die Krankenzimmerwand Gekreuzigten und schaue zu ihm auf: Es war eine Täuschung der Sinne, er schaut über mich hinweg, schaut niemanden von den hier Liegenden an, er ist allein mit seinem furchtbaren Schmerz beschäftigt, und die hier liegenden Frauen sind auch jede allein mit ihrem eigenen Schmerz. Nur jene, denen es besser geht, sind neugierig, vom Schmerz der anderen zu erfahren. Die junge Türkin damals muss von ihrer Angst vor dem Eingriff so beherrscht gewesen sein, dass sie die von der Papierwarenhändlerin hochgehaltenen Schlagzeilen nicht einmal wahrnehmen konnte: Sie hatte nie darauf reagiert.
Ich befürchte wieder extreme Geister, die durch dieses Krankenzimmer spuken und sich in Kreuzverhören verdichten könnten. Als ich noch zu Hause in meiner alten Heimat war und mit meiner besten Freundin Delia in diesen kleinen Schmerzpausen des Beisammensitzens sprach, amüsierten wir uns oft über jene, die immer wieder unsinnig sinnlose Fragen stellten. Allein konnte ich schwer darüber lachen. Unsere langen Mäntel, die damals in Mode waren, hatten uns am Fliehen gehindert. Sie hätten uns aber auch so gekriegt. Jene. Oft ließen sie uns in der Stadt unterwegs entkommen, um später an unsere Türen zu klopfen. Sie wussten, dass ihnen keiner entwischen konnte, spielten „Katz und Maus« mit uns. Wir waren auf alle Fälle schuldig, auch wenn wir nicht damit einverstanden waren, uns nicht bekannt war, welchen Vergehens man uns anklagte. Das Warum und Wozu blieb uns immer verborgen, der Zwischenraum war ausgefüllt von unserem Alltag, der in diesem Sinn unwirklich war: Jeder spielte eine Rolle, an die er nicht glaubte.
Ich habe nie erfahren, was sie von uns wissen wollten. Sie befragten uns immer wieder, und es boten sich viele Gelegenheiten dazu. Sie wollten etwas erfahren, das es gar nicht gab, und waren sehr beharrlich. Sie, das waren jene dort, die ich nie beim Namen genannt hatte. Ich war mit dem Wissen aufgewachsen, dass es sie gibt, dass man aber ihren Namen nicht aussprechen dürfe, das bringe Unglück. Sie waren unberechenbar, nicht erfassbar, mit Logik war ihre Existenz, ihr Tun und die Art und Weise, wie sie es taten, nicht erklärbar, keine Logik der Welt konnte sie verständlich machen. Man konnte immer ihr Opfer werden, eine falsche Bewegung, ein