Das Neue Testament - jüdisch erklärt. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783438072467
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bitte ich euch, dies Buch freundlich aufzunehmen und aufmerksam zu lesen und dort Nachsicht zu üben, wo es scheint, dass wir einige der Worte nicht recht getroffen haben, obwohl wir uns bemühten, gut zu übersetzen. Denn was in hebräischer Sprache geschrieben ist, wirkt nicht ebenso, wenn man es in einer anderen Sprache wiedergibt.“ (Sirach, Prolog, 15-22)

      Saarbrücken – Tübingen – Neuendettelsau

      Wolfgang Kraus – Michael Tilly – Axel Töllner

      8. Mai 2021

      Vorworte zur Originalausgabe

      Zur ersten Auflage

      „… für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch. Sie sind Israeliten, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter gehören und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch. Gott, der da ist über allem, sei gelobt in Ewigkeit … denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.“

      Saulus (Paulus) von Tarsus, Brief an die Gemeinde in Rom (9,3-5; 11,29)

      Vor fast zwei Jahrtausenden entstanden die frühesten Texte, die dann später Teil des Neuen Testaments wurden. Diese Zeitspanne war geprägt von einer größtenteils schmerzlichen Beziehung zwischen Juden und Christen. Auch wenn sich die jüdische Wahrnehmung von Christen und die christliche Wahrnehmung von Juden in den letzten Jahrzehnten merklich gebessert haben, missverstehen beide immer noch viele Texte und Traditionen der jeweils anderen. Die Veröffentlichung dieses Buchs zeugt von dieser wesentlichen Verbesserung. Unser Ideal wäre erreicht, wenn das Werk dazu dienen kann, unser Wissen sowohl über unsere gemeinsame Geschichte als auch über die Gründe unserer Trennung zu vertiefen.

      Das Wort „Jewish“ im Titel The Jewish Annotated New Testament erfüllt mehrere Funktionen: Erstens verweisen die Erläuterungen und Essays in diesem Band auf Aspekte des Judentums im ersten und zweiten Jahrhundert, die das Verständnis des Neuen Testaments vertiefen: Bräuche, Literatur sowie die Art und Weise der Auslegung biblischer Texte. Wir halten es für wichtig, dass sowohl Juden als auch Nichtjuden begreifen, wie sehr bedeutende Teile des Neuen Testaments in vielerlei Hinsicht den jüdischen Bräuchen und Überzeugungen ähneln, die in den Schriftrollen vom Toten Meer, den Werken von Philo und Josephus, der pseudepigraphischen und deuterokanonischen Literatur, den Targumim (Übersetzungen der Bibel ins Aramäische) sowie – etwas später – der rabbinischen Literatur zu finden sind, und dass viele Stellen des Neuen Testaments auf jüdische Ursprünge zurückgehen. Jesus war Jude, ebenso Paulus; die uns als Matthäus und Johannes bekannten Autoren waren wahrscheinlich Juden, ebenfalls die Autoren des Jakobusbriefs und der Offenbarung. Als sie ihre Schriften verfassten, hatten sich die Wege des Judentums und des Christentums noch nicht getrennt. Weitere Autoren wie etwa der des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte waren, obwohl wahrscheinlich nicht selber Juden, zutiefst beeinflusst vom jüdischen Denken des ersten und zweiten Jahrhunderts wie auch von der jüdischen Übersetzung des Tanach ins Griechische, der Septuaginta. Kenntnisse der vielfältigen jüdischen Gemeinschaften, die überall im Römischen Reich lebten, – ihrer Sitten und Bräuche, ihrer religiösen Praktiken – sind unerlässlich für das Verständnis der neutestamentlichen Schriften, ebenso wie eine grundsätzliche Vertrautheit mit der altrömischen Welt. Die Vertrautheit mit dem Neuen Testament hilft uns Jüdinnen und Juden wiederum, etwas von unserer eigenen Geschichte wiederzuerlangen.

      Zweitens: Wir heben Verbindungen zwischen dem Neuen Testament und der späteren jüdischen (insbesondere rabbinischen) Literatur hervor, damit der Leser nachverfolgen kann, wie sich – sowohl ähnliche als auch abweichende – Ideen und Konzepte im Lauf der Zeit entwickelt haben. In der rabbinischen Literatur zum Beispiel wird der gesamte Psalter meistens David zugeschrieben, obwohl weniger als die Hälfte der Psalmen eine davidische Überschrift trägt und etliche ausdrücklich anderen Autoren, etwa Korach, zugeschrieben werden. Wie und wann kam es dazu, dass die Rabbiner alle Psalmen als davidisch (bBB 14b) ansahen? Apg 4,25 leitet ein Zitat aus Psalm 2 – einem Psalm ohne ausdrücklich davidische Überschrift – mit den Worten ein: „du hast durch den Mund unseres Vaters David, deines Knechtes, durch den Heiligen Geist gesagt“. Dieser Vers liefert einen wichtigen Beweis dafür, dass die Vorstellung einer davidischen Autorenschaft der Psalmen bereits im ersten oder im frühen zweiten Jahrhundert u.Z. existierte und keine rabbinische Neuerung war. Die asketischen Tendenzen und das Interesse an der Auferstehung, an Himmel und Hölle sowie die Schilderungen gefallener Engel und des satanisch Bösen in einigen neutestamentlichen Texten lassen die Leserinnen und Leser wiederum erkennen, dass solche Vorstellungen auch im frühen Judentum existierten.

      Drittens: Dieses Werk spricht Probleme an, die möglicherweise insbesondere jüdische Leserinnen und Leser des Neuen Testaments beschäftigen. Das gilt vor allem für Textstellen, die dazu dienten, Antijudaismus und antijüdische Stereotype aufrechtzuerhalten, welche nichtjüdische Leserinnen und Leser manchmal in die Texte hineinlesen. Zusätzlich zur Betonung des jüdischen Hintergrunds – oder besser: des jüdischen Kontexts – des Neuen Testaments richten wir ein besonderes Augenmerk auf solche Stellen, die über Juden oder über jüdische Gruppen wie etwa die Pharisäer oder „die Juden“ im Johannesevangelium in negativen Stereotypen sprechen. Allzu lange wurden die Juden bezichtigt, „Christusmörder“ zu sein (s. 1Thess 2,14b-16), mit Judas identifiziert oder als die korrupten Nachkommen der „Geldwechsler“ im Tempel angesehen (Mt 21,12; Mk 11,15; Joh 2,14-15, vgl. Lk 16,14). Die Autorinnen und Autoren dieses Werks wollen keine Apologetik betreiben, indem sie behaupten, diese Aussagen seien harmlos. Vielmehr verorten sie diese in einen bestimmten Kontext und zeigen auf, dass sie zur polemischen Sprache der Debattenkultur des ersten Jahrhunderts gehören, oder merken an, dass die Aussagen durch die spätere christliche Tradition möglicherweise nicht immer richtig verstanden wurden. Ein besonders gutes Beispiel hierfür ist in den Erläuterungen zu Matthäus 27,25 zu lesen: „Da antwortete alles Volk und sprach: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ (ein Vers, der nur im Matthäusevangelium vorkommt). Die Erläuterung führt an, dass sich dieser Vers möglicherweise auf die Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 n.Chr. bezieht und dass die „Kinder“ speziell die Generation nach Jesus sein könnte, die diese Zerstörung noch erlebte, und nicht alle künftigen Juden. In ähnlicher Weise legen die Erläuterungen zur Offenbarung nahe, die Polemik gegen die „Versammlung des Satans, die sagen, sie seien Juden, und sind‘s nicht“ (Offb 3,9), richte sich keineswegs gegen die Juden, sondern gegen nichtjüdische Anhänger Jesu, die jüdische Praktiken förderten. Diese Erläuterungen können den Schaden zwar nicht wiedergutmachen, den solche Verse zwei Jahrtausende lang angerichtet haben; sie können aber uns allen zur Einsicht verhelfen, dass bestimmte böswillige Interpretationen des Neuen Testaments nicht, wie bisher angenommen, auf den Texten selbst fußen. Und in jedem Fall sollen die Erläuterungen und Essays christlichen Lehrern und Predigern dabei helfen, die „gute Nachricht“ (die eigentliche Bedeutung des griechischen euangelion, „Evangelium“) von Jesus in ihrer Verkündigung nicht durch antijüdische Stereotype zu beflecken.

      Bisweilen müssen Leserinnen und Leser mit diesen Texten des Neuen Testaments ringen (und dasselbe gilt nach unserer Überzeugung auch für die gemeinsamen Schriften – den Tanach der Synagoge und das Alte Testament der Kirche), da sie oft Vorstellungen ausdrücken, die uns mindestens unbequem sind. Beim Studium solcher Texte geht es nicht darum, sie zu rechtfertigen, sondern sie in ihrem historischen Kontext zu verstehen und anzuerkennen, dass ihre Erben sie unterschiedlich interpretieren. Einige Texte des Neuen Testaments scheinen zum Beispiel eine Enterbungstheologie oder auch Sub­stitutionstheologie zu vertreten. Diese behauptet in ihrer schärfsten Ausprägung, dass die Juden, indem sie Jesus erst abwiesen und dann töteten, ihren Status als Gottes Bundesvolk verloren hätten und die Verheißungen an Abraham nunmehr ausschließlich den Anhängern Jesu gälten. Nach dieser Sichtweise wurden die Juden und das Judentum also durch die Christen und das Christentum abgelöst bzw. ersetzt. Am offensichtlichsten tritt diese Theologie in Hebr 8,13 zutage: „Indem er sagt: ‚einen neuen Bund’ [Jer 31,31-34], hat er den ersten zu einem alten gemacht. Was aber alt wird und betagt ist, das ist dem Ende nahe.“ Genaueres Hinsehen führt zu tieferer Erkenntnis und folglich zu einem tieferen Verständnis dafür, wie sich solche unterschiedlichen Überzeugungen