Doch wäre die Wirkung alles, so wäre sie nicht die von Nietzsches Werk, nicht »seine« Wirkung, sie wäre die Wirkung einer Sprache, die nicht als Subjekt ihrer Wirksamkeit operiert, sondern als bloße Überredung perlokutiv immer schon ihren Adressaten und ihr Ziel erreicht hätte, reine rhetorische Gewalt. Wie aber nichts, was im Gebiet dieser rhetorischen Gewalt geschieht, unabhängig von ihr zuwege gebracht werden kann, so ist auch die Projektion eines Subjekts hinter die Tat und eines Werks hinter die Wirkung ein sprachlicher Akt: »der Täter« – so lautet Nietzsches Formulierung – ist bloß hinzugedichtet, er ist hinzugedichtet unter der Verführung der Sprache. Wenn die Verführung durch die Sprache alles ist, dann hat aber auch die Hinzudichtung eines Subjekts ihr Recht – nämlich das Recht der rhetorischen Gewalt – und dann ist nicht nur das Subjekt sprachlicher Äußerungen, sondern auch ihre Wirksamkeit selbst eine Erdichtung. Die Aktivität der Sprache ist Täuschung, ihre performative Substanz Effekt einer Verführung –: denn daß Sprache nicht nur gelegentlich und unter bestimmten Bedingungen, sondern daß sie regelmäßig und immer Verführung sei, ist selbst schon ein Glaube, der der Suggestion der Sprache folgt. Sprache, als Verführung verstanden, ist ein fundamentales und alle Fundamente zerbrechendes Paradox. Substanz ohne Substanz, führt die Verführung, die die Sprache ist, nie vom Weg der Wahrheit ab, weil es eine andere Wahrheit als die erdichtete nicht gibt.
Hinzudichtung also wäre alles – aber nichts hat diese Hinzudichtung nötiger als die Hinzudichtung »selbst«. Denn Nietzsches emphatische Parteinahme für das subjektlos-reine Tun der Sprache – und das heißt für ihre unwiderstehliche Setzungsmacht – wäre nicht nötig, wenn ihre performative Gewalt sich tatsächlich allenthalben durchzusetzen vermöchte. Und hätte die Verführung zur grammatischen Disjunktion nicht eine Grenze, so hätte auch Nietzsche dem Aberglauben an ein indifferentes Substrat der Sprache erliegen müssen. Aber die Verführung, die die Sprache ist, ist kein perlokutives, sondern allenfalls ein illokutives Ereignis, das nicht notwendig an sein Ziel: zu sich selbst kommt und dessen Wirkung seine möglichen Adressaten und in ihnen seine eigene Substanz nicht immer schon überredet hat. Sprache als Überredung wirkt in Differenz zu sich selbst. Noch vor jeder grammatischen Disjunktion in Subjekt und Prädikat findet die entscheidende – die performative – Disjunktion im Wirken der Sprache statt, in ihrem Tun und ihrem Werden. Wesentlich Wirkung, ist sie doch immer actio in distans zu sich selbst. Denn ihr Wesen – daß sie immer nur wird und nie ist, daß sie immer nur wirkt und nie Werk ist – vermag, da es Verführung ist, nie zu Etwas, sondern immer nur zur Verführung zu verführen. Das heißt aber, daß sie nie verführt haben darf, wenn anders sie Verführung bleiben soll; daß es kein Tun der Sprache geben kann, wenn anders Sprache als Tun möglich sein soll. Ihr Wesen – ihr Werden und Wirken – ist immer schon behindert, blockiert oder unterbrochen. Wenn Sprache Wirkung tut, dann aus jenem Fond der Unwirksamkeit, der sich als Distanz zu ihrem Wirken, als Distanz zu ihr selbst als Wirkung öffnet.
Diese Handlungsdistanz: die Spanne, die sich zwischen dem Wirken eines Textes und der grammatikalischen Fixierung zum Sein dieses Wirkens auftut, läßt sich weder kontrollieren, noch läßt sie sich reduzieren, denn erst dieser Distanz entspringt das Wirken und mit ihm der Text, der sich von jeder Bewegung, die er auslöst, zurückzieht. In jedem Sprechakt ist diese distantia actionis am Werk und verhält ihn konstitutiv, destitutiv zur Unwirksamkeit. Er ist möglicher Akt – aber das Potential jedes Aktes ist ein Potential aus Inaktivität: es läßt Wirkungen von unabsehbarer Vielfalt zu, aber weder bewirkt es sie, noch wird es von solchen Wirkungen erschöpft.
Die Theorien der Wirkungsgeschichte deuten Geschichte nach dem Modell des Aussagesatzes: Ein Werk provoziert – und sei’s à voix blanche – eine Wirkung. Die nietzscheanisierende Radikalisierung dieses Konzepts, zu der Gides ironische Charakteristik von Nietzsches Wirkung in Frankreich den Keim enthält, kehrt seine Aussage um: Die Wirkung macht das Werk – und bleibt dabei auf das gleiche Satzmodell fixiert. Erst mit dem Hinweis auf die »grausame Langsamkeit« der Übersetzung Nietzsches, dem sich die Prärogative der Wirkung vor dem Werk verdanken soll, berührt Gide jenen Grundsatz, den Nietzsche in der Genealogie der Moral für die Geschichtsschreibung aufgestellt hat: daß nämlich die Ursache der Entstehung eines Dings und […] dessen tatsächliche Verwendung und Einordnung in ein System von Zwecken toto coelo auseinander liegen […] (12. Aphorismus der Zweiten Abhandlung). Wenn Ursprung und Verwendung, Werk und Wirkung auseinander liegen, dann muß jede Verwendung den ursprünglichen Sinn einer Äußerung nicht nur verfehlen, sondern ihrerseits zum Ursprung eines anderen Sinns werden können: eines Sinns, der nicht im Ziel der ursprünglichen Intention liegt, sondern aus dem Kontinuum ihrer Herkunftslinie herausspringt. Jede Erkenntnis kommt für die Handlung, jede Verwendung kommt für das Werk, auf das sie sich bezieht, zu spät; und da Erkenntnis und Verwendung selber Handlungen sind, kommt jede zu früh, als daß sie bei sich selbst sein könnte. Insofern ist das Auseinander von Ursprung und Zweck und Werk und Wirkung strukturell irreduzibel. Die Kontingenz ihrer Relation läßt sich durch keine teleologische oder genealogische Konstruktion in Notwendigkeit verwandeln, denn diese Kontingenz – Foucault hat das Motiv in seinen Arbeiten aufgegriffen – ist im Ursprung selbst schon am Werk und sie erst läßt es zur retrospektiven Vorstellung von einem Ursprung kommen. Freilich nur mit jener »Langsamkeit«, die die Herrschaft des Ursprungs labil und eine kritische »Archäologie« noch der Archäologie möglich macht.
Wenn diese konstitutive – und dekonstitutive – Verzögerung in der Sprache irreduzibel ist, so gibt es – nicht ohne ihr Zutun – doch auch eine zusätzliche, die »grausame«, eine in Grenzen reduzible Verzögerung. Es ist diejenige, die die literarischen oder philosophischen Werke auf ihrem Weg von einer Sprache in eine andere, von einer kulturellen Tradition in eine zweite erfahren. Am Ende der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts war ein großer Teil von Nietzsches Texten ins Französische übersetzt und seither dauert in Frankreich, begleitet von weiteren und von Neuübersetzungen, von biographischen und geistesgeschichtlichen Monographien, eine selten unterbrochene intensive Beschäftigung mit Nietzsche an, die sein Werk nicht mehr bloß als das seiner Wirkung behandelt. Über diese mehr als hundertjährige Auseinandersetzung und über die Effekte, die sie in der französischen Diskussion philosophischer, anthropologischer, ethischer oder ästhetischer Probleme, in theoretischen wie in literarischen Werken hinterlassen hat, ist hier nicht zu berichten; über sie geben – mit jeweils anderem Akzent – die Studien von Geneviève Bianquis und W. D. Williams, von Pierre Boudot, Eric H. Deudon und anderen Auskunft. Die Sammlung der Essays, Vorträge und Reflexionen in diesem Band wird nicht in der Absicht vorgelegt, eine bestimmte Epoche oder eine Schule der Nietzsche-Lektüre in Frankreich zu dokumentieren und sie auf diese Weise den Archiven einer antiquarisch, und selbst noch an ihrer eigenen Gegenwart nur antiquarisch interessierten Öffentlichkeit einzuverleiben. Auf diesem Weg würden nicht nur die hier versammelten Texte ihrer Brisanz beraubt, Nietzsches Texte selbst würden das, was sie auf dem Weg nach Frankreich gewonnen haben, wieder verlieren.
Die historische Ironie in Gides Wort von einer Wirkung ohne Werk liegt darin, daß es mittlerweile eine triftigere Formel für Nietzsches Los in Deutschland geworden ist als sie es je für sein französisches war. Kaum etwas könnte bezeichnender für den »Stand der Nietzsche-Forschung in Deutschland« sein als der Umstand, daß sie die erste vollständige historisch-kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken der zähen und gescheiten Arbeit der beiden Italiener Colli und Montinari zu verdanken hat. Nietzsche in Deutschland – das war die längste Zeit die Geschichte seiner Erhebung zum geistigen