Kultur- und Literaturwissenschaften. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия: Kompendium DaF/DaZ
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823301196
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Menschen erzeugte Gesamtkomplex von Vorstellungen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen aufgefasst“ werden könne, „der sich in Symbolsystemen materialisiert“.

      Von einem solchen dynamischen, binnendifferenzierten und plurizentrischen Kulturbegriff, der von Akkulturations- und Mischungsprozessen ausgeht (siehe hier auch „Der Gestus der Kultur ist Mischung“ bei Bogdal 2011), waren das verbreitete Kulturverständnis und die gängige Kulturpraxis des Fremdsprachenunterrichts bisher in der Regel weit entfernt. Wenn Kultur aber weniger als Sammlung von tradierten und fixierten Artefakten, sondern als symbolisches Bedeutungssystem anzusehen ist, das sich in veränderbaren Denkweisen, Handlungen und Werten ausdrückt, die zudem viel Raum für individuelle Gestaltung und Interpretation lassen (Binnendifferenzierung), dann verändert sich auch das Konzept der Kulturvermittlung im Unterricht grundlegend.

      If culture is understood not as artifacts or isolated behaviors, but as connected patterns of thought, actions, and expression; and if patterns exist in the eyes of the beholder, then the teaching of culture takes on a new meaning and function. (Webber 1990: 133)

      Porter und Samovar (1994: 12) leiten aus dieser Feststellung sechs Kriterien für die Behandlung von Kultur im Fremdsprachenunterricht ab. Diese betrachten die Autoren als konstitutiv für die Vermittlung interkultureller Kompetenzen im Fremdsprachenunterricht:

       Kultur ist erlernt;

       Kultur ist übertragbar;

       Kultur ist dynamisch;

       Kultur ist selektiv;

       die verschiedenen Facetten von Kultur sind miteinander verbunden;

       Kultur ist ethnozentrisch.

      Damit ist ein Wandel in den Ansätzen der Kulturvermittlung von den auf mehr oder weniger stereotype Fakten ausgerichteten hin zu dynamischen, kontextualisierenden, perspektivierenden und transkulturellen vorgezeichnet. Eine Präferenz für einen semiotischen, bedeutungsorientierten und konstruktivistisch geprägten Kulturbegriff beginnt sich mittlerweile – zumindest partiell und zaghaft – auch in neueren Modellen der Landeskunde durchzusetzen. Sprache wird dabei als konstitutives Element von Kultur angesehen, aber nicht in allen Ansätzen auch entsprechend behandelt. In der ehemals sowjetischen, heute russischen Fremdsprachendidaktik wird auch heute noch Wert auf kulturspezifische Lexik gelegt, die auf Realitäten innerhalb einer bestimmten Gesellschaft verweist; dieser Ansatz einer Form von sprachbezogener Landeskunde wird auch als Linguolandeskunde bezeichnet.

      Dieses Konzept verfolgt die Vermittlung landeskundlicher Kenntnisse, unter anderem auch durch den an Gesellschaftsrealia gebundenen Assoziationswortschatz. Die sprach- und kulturphilosophischen Grundlagen des Konzepts der sprachbezogenen Landeskunde von Kostomarov und Vereščagin (1990 [1973]) basieren auf fünf Annahmen (ausführlich bei Abendroth‑Timmer 1998: 166f; in Venohr 2007: 70): Die wichtigste Annahme bei diesem Ansatz besagt ebenfalls, dass „die Sprache ein Mittel ist, um an eine andere Welt heranzuführen. Die Welt erschließt sich über Sprache, da sie die Funktion des Trägers und Überträgers von Denkweisen hat“ (Abendroth‑Timmer 1998: 166f). Diese „mentalitätskognitivistische“ Tradition wird auch heute noch weitergeführt, unter anderem im Bereich der Ethnokonnotation (vergleiche Bykova 2000), die gerade auch bei der Sinnerschließung von Texten durch kulturspezifische Informationen eine entscheidende Rolle spielt. Dies verdeutlicht Bykova an Texten, genauer an Textgattungen, wie der Sage, die sie als „Fundgrube für kulturspezifische Informationen“ bezeichnet und zwar auf lexikalischer Ebene (2000: 174).

      Sprachorientierte Ansätze in der Landeskunde, bei denen sprachliches Handeln und interaktionale Kompetenz im Fokus stehen, können durch kulturanthropologische ergänzt werden. Dabei geht man zunächst vom Zeichencharakter von Kultur (Barthes 1964 [1957]) aus. Texte – auch als Abfolge von Zeichen verstanden – sind die primäre Organisationsform, in der sich die menschliche Sprache in der Gesellschaft manifestiert. „Texte sind deshalb auch zentraler Gegenstand des Fremdsprachenunterrichts, also Ausgangs- und Endpunkt des Lehrens und Lernens“ (Barthel 1991: 7). Das in kulturwissenschaftlicher Perspektive favorisierte Textverständnis ist ein anderes als die schriftliche Fixierung von Sprache, es greift vielmehr auf die (kulturelle) Texterfahrung von Lernern durch wiederkehrende Muster zurück.

      Textwissenschaftliche Perspektivierungen von Kultur, die darin eine Konstellation von Texten sehen, die über das geschriebene und gesprochene Wort hinaus auch in Ritualen, Theater, Gebärden, Festen und weiteren Objektivationen verkörpert sind, werden als höchst aufschlussreich angesehen, wenn es darum geht, das Netzwerk historischer, sozialer, geschlechtsspezifischer Beziehungen im Licht ihrer kulturellen Vertextung, Symbolisierung und Kodierung zu rekonstruieren. Ziel ist es dabei, Zugang zu den Selbstverschreibungsdimensionen einer Gesellschaft im Horizont der Metapher als Text zu gewinnen (Bachmann-Medick 2006: 10). Zur Interpretation von Texten bedarf es nach Stanley Fish interpretativer Gemeinschaften:

      Indeed, it is interpretive communities, rather than either the text or the reader, that produce meanings and are responsible for the emergence of formal features. Interpretive communities are made up of those who share interpretive strategies not for reading but for writing texts, for constituting their properties. In other words, these strategies exist prior to the act of reading and therefore determine the shape of what is read rather than […] the other way around. (Fish 1995: 14)

      Die Wissenskonstruktion, die Interpretation von Texten, benötigt demnach Abstimmungsprozesse in der Gemeinschaft, das heißt die ViabilisierungViabilisierung im Kollektiv. Fish (1995) geht es dabei aber nicht so sehr um das Verstehen von Bedeutung, also um das Lesen von Texten, sondern um das Ziel, Texte selbst produzieren zu können. Das Textverstehen übernimmt die Aufgabe eines Hilfsmittels in Form von interpretativen Strategien (interpretive strategies). Diese Strategien gelten als generisches, nicht semantisch determiniertes Grundinventar für die kognitive Verarbeitung. Sie dienen zur Wahrnehmung und Analyse von Texten. Das eigentliche Ziel der Kommunikation ist in diesem Ansatz aber die Produktion von Texten, für die ebenfalls bestimmte kognitive Strategien erforderlich sind. Diese Produktionsstrategien ergeben sich nicht aus der inhaltlichen Rezeption des Textes. Sie bestimmen vielmehr den konstruktiven Lese- beziehungsweise Rezeptionsprozess, der damit zum Produktions(schreib-)prozess des Rezipienten wird.

      Wir sehen also, dass das bekannte, oft ungeliebte, als unterrichtlicher Luxus betrachtete Thema Landeskunde viel facettenreicher ist, als es auch in der fremdsprachendidaktischen Literatur vorwiegend behandelt oder dargestellt wird. Angesichts der vielfältigen Konzepte und Begriffe ist zu fragen, ob man überhaupt noch von reiner Landeskunde sprechen sollte. Die hier zum Eingang des Bandes skizzierten Ansätze und Begrifflichkeiten zeigen schließlich einen ganzen Kosmos auf, der vor allem von dynamischen, kontextualisierenden und von Sprache abhängigen Konzepten geprägt ist. Die meisten dieser Begriffe und Konzepte werden im Laufe des Bandes immer wieder aufgegriffen, vertieft, aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt und auf ihre praktische Relevanz im DaF-Unterricht hin überprüft. Eine einfache Übertragung auf klassische Unterrichtskonzepte ist nicht möglich und nicht sinnvoll. Sie würde der kulturellen Komplexität und Vielfalt nicht gerecht und sie würde viele Chancen der Sprachvermittlung ungenutzt lassen.

      1.1.4 Zusammenfassung

      In dieser ersten Lerneinheit haben Sie gesehen, dass

       das Verständnis von Kultur ausschlaggebend für die Beschäftigung mit Vorstellungen und Denkweisen einer Sprechergruppe ist;

       Sprache und Kultur einerseits untrennbar, andererseits auch komplementär miteinander verbunden sind (Linguakultur);

       die Aneignung von Welt durch Sprache ein wichtiges Grundprinzip für den Wissenserwerb, auch den Erwerb von kulturellem Wissen, darstellt;

       die Einzelsprachen aus unterschiedlichen Weltsichten (Perspektivierungen) entstehen und somit durch sie auch unterschliche Zugriffe auf die außersprachliche Welt möglich sind;

       die teilweise sehr unterschiedlichen Perspektiven von Sprache und Kultur in sprachphilosophischen Schriften aufgrund ihrer Stereotypisierung und ihrer Gebundenheit an ein undifferenziertes