Gesprochenes Portugiesisch aus sprachpragmatischer Perspektive. Bernd Sieberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernd Sieberg
Издательство: Bookwire
Серия: Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823300892
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Tagungen in den USA (Bloomington 1964) sowie Mexiko (1968). Von dort aus ‚importierte‘ Nelson Rossi, Professor an der staatlichen Universität von Bahia, das Projekt mit dem ursprünglichen Titel „Proyecto de Estudio Coordinado de la Norma Linguistica Culta de las Principales Ciudades de Iberoamerica y la Peninsula Iberica“ nach Brasilien und stellte es 1969 in einer Tagung in São Paulo seinen brasilianischen Kollegen vor. Schnell war man sich einig, dass man das Projekt übernehmen, aber im Gegensatz zum ursprünglichen Konzept auf alle urbanen Zentren Brasiliens von Süden bis Norden ausdehnen wollte: von Porto Alegre (NURC/RS), über São Paulo (NURC/PS), nach Rio de Janeiro (NURC-RJ), Salvador (NURC-Salvador) und Recife (NURC/RE). Im Zentrum dieser Initiative stand zu Beginn Isaac Nicolau Salum von der USP in São Paulo. Er wurde 1981 von Dino Preti sowie Ataliba Teixeira de Castilho, einem früheren Doktoranten Salums, abgelöst.

      Die erste Phase dieses Projektes wurde mit einer Datenerhebung, die von 1970 bis 1978 währte, in allen fünf genannten urbanen Zentren Brasiliens eingeleitet. Obwohl es sich dabei um Aufnahmen der gesprochenen Sprache handelte, ging es den Verantwortlichen in erster Hinsicht nicht ausschließlich um eine Grammatik der gesprochenen Variante des brasilianischen Portugiesisch. Was man beabsichtigte, war hingegen ein „Estudo da Norma Linguística Culta de algumas das principais capitais brasileiras“, so der Name einer Schrift von Castilho (1972/1973). Ziel war die Beschreibung und Entwicklung einer ‚Sprechen und Schreiben‘ erfassenden Grammatik des standardsprachlichen brasilianischen Portugiesisch, so wie es auch der Projekttitel Norma Linguística Culta nahelegt. Dabei sollte man sich vor Augen führen, dass dieses Projekt die Anfangsphase systematisch betriebener Sprachwissenschaft in Brasilien einleitete. Zu dieser Zeit mangelte es ihm aber sowohl an geeigneten Korpora der geschriebenen und gesprochenen Sprache als auch an entsprechenden Methoden und Konzepten, die eine systematische Erfassung und Beschreibung erlaubt hätten. Unter diesen Bedingungen war es ein naheliegender und verständlicher Schritt, die Beschreibung des brasilianischen Portugiesisch mit einem Plan zur Erstellung von Korpora der GS einzuleiten.

      Die Aufnahmen zu diesen Korpora19 erfolgten in allen oben genannten Städten zwischen 1970 und 1978 und erfassten einen für diese Zeit und ihre technischen Möglichkeiten gigantischen Korpus von 1.870 Interviews. An seinem Zustandekommen waren 2.356 weibliche und männliche Gewährspersonen beteiligt. Insgesamt kamen so 1.570 Stunden Sprachaufnahmen zusammen (Castilho 2015,12). Als Bedingung für die Datenerfassung – man denke an den Namen des Projekts Norma Linguística Culta – wurde vorgegeben, dass es sich um Gewährspersonen verschiedenen Alters (davon 30 % zwischen 25 und 35, 45 % zwischen 36 und 55, und 25 % mit mehr als 56 Jahren) mit einer höheren Schulausbildung (nível superior de escolaridade) handeln musste. Die Aufnahmen setzten sich aus verborgen aufgenommen ‚spontanen Dialogen‘ (10 %), Gesprächen zwischen zwei Gewährspersonen (40 %), Interviews mit einer Reihe vorher festgelegter Fragen (40 %) sowie aus monologischen Texten für den phonetischen Teil der Untersuchung (10 %) zusammen (Silva 1996, 85).

      Die Transkriptionen der Korpora bildeten den folgenden Schritt zur Erstellung des Gesamtkorpus. Sieht man sich als Beispiel für die vorhandenen Transkriptionen das Korpus von Rio de Janeiro an, fällt auf, dass es sich um ‚literarische Transkriptionen‘ handelt, die allerdings von der Standardorthographie abweichende Aussprachen zumindest teilweise in ihren alternativen Formen (einschließlich der entsprechenden Graphemik) transkribieren, wie z.B. den Satz Também não dá pra ter em apartamento (Inquérito 0120 / tema ‚animais e rebanhas‘ / ano da gravação 1972)20. In dieser Hinsicht besteht ein wichtiger Unterschied zu den in Portugal vom CLUL bereitgestellten ‚literarische Transkriptionen‘ wie denen des ‚C-ORAL-ROM-Korpus‘, die phonetische Abweichungen ignorieren und den Regeln der Standardorthographie anpassen. Ungefähr zeitgleich mit der Datenerhebung und Anfertigung der Korpora zwischen 1970 und 1978 – je nach Stadt dauerte die Erstellung der Transkriptionen unterschiedlich lange – erschien eine Reihe von Untersuchungen zum brasilianischen Portugiesisch (Castilho 2007, 100). Aber erst seit Mitte der 80er Jahre setzte eine wahre Flut von Veröffentlichungen ein, die sich zu einem erheblichen Anteil – wenn auch nicht ausschließlich – der gesprochenen Variante des brasilianischen Portugiesisch widmete. Entsprechend äußert sich ein anderer bedeutender brasilianischer Sprachwissenschaftler, Luiz A. Marcuschi21 (2001, 345): „Até então quase inexistentes estudos sistemáticos sobre a fala, a escrita e as relações de ambas no Brasil. Hoje esse campo conta com algumas centenas de trabalhos nas mais diversas linhas teóricas sobre os mais variados aspectos“.

      Die zweite Phase des NURC Projekts begann mit einer systematischen Auswertung des Korpus unter Berücksichtigung der bis dato neu veröffentlichten Literatur zum Thema, wobei die Gruppe um Castilho in dieser Phase auf mehr als 50 Mitarbeiter aus 15 brasilianischen und ausländischen Universitäten zählen konnte. Der Titel dieses Projekts Projeto de Gramática do Português Falado (PGPF) ist allerdings irreführend, weil im Zentrum des Projekts nicht ausschließlich – wie das Attribut ‚falado‘22 vermuten lässt – die GS, sondern eine Beschreibung des standardsprachlichen oder ‚hochsprachlichen‘ brasilianischen Portugiesisch stand, wenn man diesen letzteren zumindest in der europäischen Forschungstradition archaisch anmutenden und für die deskriptive Linguistik negativ konnotierten Begriff verwenden will.

      Das Team um Castilho, zu dem unter anderen Margarida Basílio, Rodolfo Ilari, Mary Kato, Ingedore Villaça Koch, Maria Helena Moura Neves, Maria Bernadete Marques Abaurre und Ângela Rodrigues gehörten – um nur eine der wichtigsten Namen zu nennen –, begann ab 1990 mit der ersten Ausgabe der insgesamt acht Bänden der Gramática do Português Falado, die zunächst beim Verlag ‚Unicamp‘ der Universität von Campinas im Staat São Paulo erschien23. Dabei handelte es sich im Grunde genommen nicht um eine Grammatik im engeren Sinn dieses Begriffs, sondern zunächst um eine Sammlung lose miteinander verbundener Artikel zu den verschiedenen Bereichen einer Grammatik. Dazu gehören sowohl Beiträge zur Schriftsprache als auch solche, die sich spezifischen Erscheinungen der Mündlichkeit widmen.

      Dieser Mangel und eine weitere Flut von Veröffentlichungen führte ab 2004 zu einer Phase der „Consolidação“ (Castilho 2007, 100). Neben einer Aktualisierung bedeutete die Umgestaltung insbesondere, dass man thematisch zusammengehörige Beiträge zu Gruppen zusammenfasste. Am Ende dieses Prozesses stand die Veröffentlichung einer ‚runderneuerten‘ Grammatik, der man den Titel Gramática do Português Culto Falado no Brasil verlieh. Diese Reihe bestand zunächst aus fünf Bänden, wurde dann aber umorganisiert und auf insgesamt sieben Bände verteilt, wobei die originalen Beiträge der fünfbändigen Ausgabe wortgetreu erhalten blieben. Diese Umverteilung war sinnvoll, weil der ursprünglich zweite Band dieser Version der Grammatik mit weit über 1000 Seiten zu umfassend ausgefallen war – für die neue Herausgabe wurde ‚Band II‘ in drei Einzelbände aufgeteilt – und preislich so hoch lag, dass sich sein Verkauf als schwierig erwiesen hatte.

      Die (vorläufig) neueste Ausgabe der aus sieben Bänden bestehenden Gramática do Português Culto Falado no Brasil erschien zwischen 2013 und 2016, nun bei dem Verlag ‚Editora Contexto‘ in São Paulo, und setzt sich folgendermaßen zusammen: Band I wurde 2015 von Clécila Spinardi Jubran unter dem Titel A Construção do Texto Falado herausgebracht. Ihm folgte noch im selben Jahr 2015 Band II von Mary Kato und Milton do Nascimento mit dem Titel A Construção da Sentença. Band III von Rodolfo Ilari mit dem Titel Palavras de Classe Aberta war bereits 2014 erschienen, und ebenfalls von Ilari wurde dann 2015 Band IV mit dem Thema Palavras de Classe Fechada herausgegeben. 2016 folgte Band V mit dem Titel A Construção de Orações Complexas von Neves, Helena Maria de Moura. Ângela Rodrigues und Ieda Maria Alves organisierten Band VI A Construção Morfológica da Palavra, der 2015 veröffentlicht wurde, und die Herausgabe des bereits 2013 erschienenen Bands VII A Construção Fonológica da Palavra leitete schließlich Maria Bernadete Abaurre.

      Obwohl auch bereits die sieben Bände dieser Grammatik zahlreiche Beiträge24 zur GS des brasilianischen Portugiesisch enthalten – man erinnere sich an den ursprünglichen Plan, dem zufolge das Projekt sowohl Sprechen als auch Schreiben erfassen sollte –, sind die Artikel, die Dino Preti zusammen mit anderen Autoren in den zehn Bänden seines ‚Projetos Paralelos‘ veröffentlicht hat, spezifisch auf den Forschungsbereich der