In Anbetracht vieler Argumente zu Vorteilen des induktiven Lernens stellt sich jedoch die Frage, warum Grammatik in vielen Teilen der Welt explizit erklärt wird (vgl. Rösler 2015: 92). Induktives Grammatiklernen mag effektiver wirken, im Hinblick auf Alter, Lerntraditionen und Lerngewohnheiten kann aber durchaus die deduktive Vorgehensweise wirkungsvoller sein.3 Während im Präsenzunterricht die Entscheidung über die Vermittlungsweise von einer Lehrperson übernommen oder durch die Darstellung im Lehrwerk bestimmt wird, können bzw. müssen sich die Selbstlernenden eigenständig für eine Vorgehensweise entscheiden, vorausgesetzt, dass im digitalen Lernmaterial eine derartige Option vorprogrammiert ist. Entweder wird der Modus, in dem Grammatik gelernt wird, zu Beginn gewählt, oder es besteht eine Möglichkeit, jederzeit zwischen den Modi deduktiv oder induktiv zu wechseln.
Mehlhorn betont, dass Lernende beim Lernen einer zweiten und weiteren Fremdsprache(n) in der Lage sind, ihr Vorwissen bereits im Anfängerunterricht zur Erschließung grammatischer Regelhaftigkeiten der Zielsprache einzubeziehen. Als hilfreich bezeichnet sie das Vergleichen mit bereits gelernten Sprachen und „induktive Vorgehensweisen“ (Mehlhorn 2012: 126). Die induktive Vorgehensweise wird in didaktischen Diskussionen mit dem Prinzip des entdeckenden Lernens verbunden (vgl. Koenig 2001: 298). Liebig schreibt dem entdeckenden Lernen als Unterrichtsprinzip im schulischen Kontext das Potenzial zur Förderung selbstständigen, individuellen und aktiven Lernens sowie der Motivation zu (vgl. Liebig 2012: 7). „Die Lernenden entwickeln ihre eigenen Erklärungen für ein Phänomen ebenso wie neue Denkwege und neue Lösungswege, denn nicht die Lösung der Aufgabe, sondern der Weg steht im Vordergrund“ (ebd.: 1).
Die Darstellung grammatischer Inhalte wird beim entdeckenden Lernen so aufgebaut, dass Lernende selbst die Regelmäßigkeiten anhand von Beispielen erschließen und Regeln formulieren, anstatt sie fertig präsentiert zu bekommen (vgl. Spannhake und Bogacz-Groß 2008: 257; Rösler 2012: 182). Mittlerweile bieten die meisten Lernmaterialien eine entdeckende Vorgehensweise nach dem S-O-S-Prinzip (Sammeln ‒ Ordnen ‒ Systematisieren) bei der Grammatikdarstellung an, indem sie Lernenden ermöglichen, „neue Strukturen durch genaues Wahrnehmen und Vergleichen sprachlicher Muster zu entdecken, zu vergleichen und mit unterschiedlich umfangreicher Hilfestellung zu einer eigenen Regelformulierung zu gelangen“ (Koenig 2001: 298). Entdeckendes Lernen kann der Anregung der Kreativität und der Steigerung der Lernmotivation und somit der Förderung von besserem Verstehen und Behalten dienen (vgl. ebd.; Funk und Koenig 1991a; Chudak 2008: 130). Aufgaben und Übungen beim entdeckenden Lernen „beinhalten Tätigkeiten mit vergleichender Dimension wie Ordnen, Unterscheiden, Vergleichen, Identifizieren, Analysieren, Kontrastieren, Analogien bilden, merkmalgestütztes Erraten, Reflektieren“ (Mehlhorn 2012: 122).4
Jedoch kann entdeckendes Lernen zeitaufwendiger sein. Der hohe Zeitaufwand kann Lehrende vom Einsatz des entdeckenden Lernens im Unterricht abschrecken (vgl. Liebig 2012, 8). Im Kontext des selbstständigen Lernens außerhalb des Unterrichts tritt dieser Aspekt in den Hintergrund. Es lässt sich jedoch vermuten, dass im Fall einer längeren Beschäftigung mit grammatischen Inhalten, indem die gebildeten Hypothesen über die jeweilige Struktur nach mehreren Versuchen nicht bestätigt werden, zu einem Abbruch des Lernens führen kann. Darüber hinaus sind fehlerhafte Schlussfolgerungen beim Entdecken grammatischer Regeln nicht auszuschließen. Deswegen ist bei der Konzeption und Entwicklung von Lernmaterialien für entdeckendes Lernen zu beachten, ob und welche fehlerhaften Schlussfolgerungen gezogen werden könnten, wie Lernende zur „richtigen“ Regel gelenkt werden und die Informationen über die jeweiligen grammatischen Strukturen gesichert werden könnten. Im Unterricht können Lehrende beim Entdecken durch das Lenken unterstützen, bei selbstständigen Entdeckungsprozessen sind unterschiedliche Lernhilfen nötig, die bspw. in digitalen Lernprogrammen durch Vorzeigefunktionen oder abrufbare Hilfestellungen realisierbar sind.
4.1.3. Wissenschaftliche und didaktische Grammatiken
Grammatikbücher, die Strukturen einer Sprache beschreiben, sind fester Bestandteil des Grammatikunterrichts. Die Beschreibungen können sich im Hinblick auf Umfang, Ausführlichkeit, Präzision etc. unterscheiden und in „sprachwissenschaftliche und didaktische“1 unterteilt werden (Rösler 2012: 176). Die Erwartung an eine wissenschaftliche Grammatik formuliert Rösler wie folgt: „dass sie so umfassend, so präzise und so knapp wie möglich ist“ (ebd.: 177). Die Unterschiede zwischen wissenschaftlichen und didaktischen Grammatiken fasst Schmidt (1990) in seinem Beitrag zusammen. So bieten wissenschaftliche Grammatiken eine abstrakte Beschreibung grammatischer Strukturen. Die Darstellung ist kurz und gleichzeitig ausführlich mit dem Fokus auf Ausnahmen von Regeln. Die lernpsychologischen Aspekte wie Verstehbarkeit, Behaltbarkeit und Anwendbarkeit werden bei der Darstellung nicht berücksichtigt (vgl. ebd.: 154). Wie in 4.1.1 bereits erwähnt, werden diese Aspekte hingegen in didaktischen Grammatiken beachtet. Sie beinhalten eine Auswahl grammatischer Regeln und ihrer Ausnahmen. Dabei werden diese Strukturen mit visueller Unterstützung dargestellt (vgl. ebd.). Weitere Anforderungen an didaktische Grammatikdarstellungen sind laut Storch die Angemessenheit des Sprachniveaus der Lernenden, die Konkretheit und Anschaulichkeit sowie die Übersichtlichkeit (vgl. Storch 1999: 78 ff.). So können didaktische Grammatiken zur Verständlichkeit und Lernbarkeit der Grammatik beitragen (vgl. ebd.: 78). Einen wichtigen Unterschied einer didaktischen Grammatik zu einer wissenschaftlichen formuliert Götze wie folgt: es
[…] ist eine Grammatik, die aus einer umfassenden linguistischen Beschreibung der deutschen Gegenwartssprache in ihrer geschriebenen und gesprochenen Variante die hochfrequenten, für die Kommunikation wichtigen und für den Lernenden schwierigen Strukturen auswählt und darstellt […] (Götze 1994: 6).
Die Problematik der im Zitat erwähnten Auswahl thematisiert Chaudhuri, da es sich um die Begrenzung nicht nur des Umfangs sondern auch des Zugangs zur Grammatik handelt, „indem dem Lerner nur ein möglicher Lernweg gezeigt wird“ (Chaudhuri 2009: 114). Darüber hinaus handelt es sich laut Götze um ein „erweitertes Verständnis von Grammatik“ (Götze 1994: 6). Didaktische Grammatiken beinhalten phonetische, morphologische, syntaktische, semantische und pragmatische Informationen über grammatische Strukturen (vgl. ebd.).
Didaktische Grammatiken zielen auf eine Regelbildung im Kopf „und zwar so, dass die Phänomene der Zielsprache nicht nur begrifflich erkannt, sondern auch beherrscht werden“ (Rösler 2012: 177). Rösler bietet eine weitere Differenzierung in Bezug auf didaktische Grammatiken: Referenzgrammatiken fungieren als Nachschlagewerke, Übungsgrammatiken stellen grammatische Strukturen und Übungen zur Verfügung (vgl. ebd.: 178). Der Aufbau von Übungsgrammatiken (Regeldarstellung und Übungen) ermöglicht selbstständiges Lernen grammatischer Inhalte. Die Entwicklung einer universalen didaktischen Grammatik, die allen Anforderungen entspricht, ist problematisch. Es sind Entscheidungen zu treffen, in welchem Umfang und wie ausführlich ein grammatisches Phänomen dargestellt wird. Dies kann ausgehend von den Bedürfnissen einzelner Zielgruppen geschehen. Jedoch kann die Erwartung an didaktische Grammatiken, die für jeden in digitaler Form im Netz zugänglich sind, nicht illusionär sein, da die Anpassung für eine bestimmte Zielgruppe schwer realisierbar ist. Die Potenziale von Online-Übungsgrammatiken zum Selbstlernen wurden in Kapitel 2.1.5 diskutiert.
In diesem Unterkapitel wurden allgemeine Aspekte der Grammatikvermittlung dargelegt. Im Folgenden wird auf den deutschen Imperativ eigegangen, der im Rahmen des vorliegenden Projektes von den Teilnehmenden gelernt wurde. Der Entwicklung der Imperativ-Einheit ging eine Lehrwerkanalyse voraus. Bevor die Ergebnisse der durchgeführten Analyse dargestellt werden, werden morphologische, pragmatische und syntaktische Dimensionen des Imperativs in wissenschaftlichen und didaktischen Grammatiken analysiert, um eine ganzheitliche Darstellung zu gewährleisten.
4.2. Der Imperativ in wissenschaftlichen Grammatiken
Wie sich wissenschaftliche und didaktische Grammatiken voneinander unterscheiden, kann anhand eines grammatischen Phänomens illustriert werden. Da der Imperativ bzw. das Selbstlernen des Imperativs im Mittelpunkt der vorliegenden Studie steht, ist eine Darstellung der grammatischen Struktur sowohl aus linguistischen als auch didaktischen Perspektiven vonnöten.
Wie bereits in 4.1.3 erwähnt, wird von einer wissenschaftlichen Grammatik eine Präzision in der Beschreibung grammatischer Strukturen