Poesía Visual im Spanischunterricht. Dr. Victoria del Valle Luque. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dr. Victoria del Valle Luque
Издательство: Bookwire
Серия: Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823300700
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Varianten und Abschattungen ist, was die spanische experimentelle Dichtung am meisten auszeichnet, ihre Anschaubarkeit, ihre Betonung des Visuellen […]. Das Auge dichtet. Oft scheint es, als fehlten dem spanischen experimentellen Dichter andere Sinne. (Boso 1972, 303)

      Dass Anschaulichkeit und Betonung des Visuellen als wichtige Merkmale der poesía experimental hingestellt werden, erklärt, wieso sich die Bezeichnung bis heute als Synonym von Poesía Visual hält (z. B. Diputación Badajoz 2002-2013, Hermosilla 2013, López Gradolí 2012; Morales Prado 2004). Poesía experimental bedeutet auch Poesía Visual, aber nicht nur. Sie hat zudem, wie bereits dargelegt, viele andere Ausrichtungen. Daher ist, zusammenfassend, Poesía Visual immer dann der angemessene Begriff, wenn er explizit das Visuelle an der Gestaltungsform des Gedichtes bezeichnen soll.

      1.2.3 Zusammenfassung

      Wie sich im Kapitel zur Problematik der Begriffsverwirrung erwiesen hat, ist es erforderlich, der begrifflichen Entwicklung nachzugehen. Aus spanischer Sicht ist Poesía Visual als ein wesentliches Genre der poesía experimental zu verstehen (vgl. z. B. Fernández Serrato 1995b; Lanz Rivera 1992; López Fernández 2008). Demgegenüber sehen internationale allgemein vergleichende Forschungen Visuelle Poesie als eigenständige Gattung (vgl. Adler/Ernst 1990; Dubiel 2004; Bohn 1986; Millán Domínguez 1999). Beide Arten der Auslegung schließen einander nicht aus und sind daher nicht als Gegensätze zu begreifen. In beiden Fällen stehen Visualität und Visualisierung von Sprache als Hauptcharakteristika im Vordergrund. Poesía Visual kann sowohl in einer allgemeineren Betrachtung als Genre der poesía experimental wie auch im engeren Sinne (in der Linie der Visuellen Poesie) als autonome poetische Gattung gelten. Hier unterscheidet sich lediglich die Perspektive, aus der die Poesía Visual beleuchtet wird.

      Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf Poesía Visual, wie in der Grafik (Abbildung 1) dargestellt ist. In Anbetracht der aktuellsten Veröffentlichungen (v.a. Díaz Rosales 2014; Dietz/Gálvez 2013) und Millán Domínguez’ Erklärung von der „poesía visual como género“ (1999, 1188) erscheint der Begriff Poesía Visual für die vorliegende Untersuchung sachgerecht, denn erstens verdeutlicht der (spanische) Begriff das spanischsprachige poetische Phänomen, zweitens wird das Visuelle explizit bezeichnet und drittens eine theoretisch eng gefasste Betrachtung der Gattung ermöglicht.

      1.3 Poesía Visual - poesía de vanguardia

      Spanische literaturwissenschaftliche Theorien stimmen darin überein, dass die heutige Poesía Visual als post-avantgardistische literarische Erscheinung zu sehen ist (vgl. u. a. de Cózar 1991, 396; Fernández Serrato 2005, 50 ff.; López Fernández 2008; Millán Domínguez 1999, 950 ff.; Millán/de Francisco 1998, 107). Eine direkte Verbindung zur poetischen Avantgarde besteht in zweierlei Hinsicht: zum einen aufgrund der historischen Entwicklung der Poesía Visual, die in Spanien unmittelbar an die durch den Bürgerkrieg unterbrochene künstlerische Avantgarde anknüpft (siehe hierzu Kapitel 2.4 und 2.5); und zum anderen angesichts der bis heute von Dichtern und Dichterkollektiven der Poesía Visual proklamierten poetisch-konzeptionellen Idealen, die unverkennbar aus der künstlerischen Avantgarde stammen, wie im Folgenden erläutert werden soll (vgl. Reglero 2013; Stellungnahmen der Dichterinnen und Dichter, siehe Anhang 1).

      Zentrale poetische Verfahren und Zielsetzungen der Avantgarde sind für das Verständnis der Poesía Visual relevant. Bei dem Blick auf die Grundsätze der künstlerischen Avantgarde und bei der Erarbeitung der von der Poesía Visual aufgenommenen Charakteristika wird rückschauend erneut auf das Problem der begrifflichen Inkonsistenz zurückgegriffen und vorgreifend die theoretische Basis geschaffen, auf der die grenzüberschreitenden Funktionen eines poema visual als Hybrid und Intermedium zu verstehen sind.

      1.3.1 Exkurs: Die künstlerische Avantgarde und ihre Grundsätze

      Van den Berg und Fähnders definieren die europäische künstlerische Avantgarde des 20. Jahrhunderts wie folgt:

      Die Avantgarde bildete ein Geflecht von Gruppierungen, Bewegungen, Ismen, Strömungen, Tendenzen, von Einzelkünstlern, Galeristen, Verlegern, von Zeitschriften und Zeitungen mit dem Anspruch, nicht nur eine radikale Neuerung künstlerischer Formen und der einzelnen Künste zu bewirken, sondern zugleich eine gänzlich neue Auffassung von Kunst und eine neuartige Positionierung der Kunst in der Gesellschaft durchzusetzen. (van den Berg/Fähnders 2009, 1)

      Anhand der langen Liste von Bestandteilen des „Geflechts“ verweisen die beiden Autoren auf etkwas, was sie nachfolgend konkretisieren: „Die Avantgarde war eine äußerst heterogene und fluktuierende Erscheinung“ (van den Berg/Fähnders 2009, 1), die demnach terminologisch nicht eindeutig zu fassen sei.

      Der Begriff Avantgarde ist von dem französischen avant-garde abgeleitet und ein Terminus aus dem militärischen Sprachgebrauch. Die sogenannte Avant-Garde bildete die Vorhut einer militärischen Einheit, die die Aufgabe hatte, „des Feindes Anrücken zu erfahren und zu erforschen“ (van den Berg/Fähnders 2009, 4).11 In einem übertragenen ästhetischen Sinn wird der Begriff das erste Mal 1912 von Guillaume Apollinaire in einer Bemerkung über die futuristischen Maler in Italien verwendet (vgl. ebd., 6). Daraufhin wird er von den Teilnehmern dieser Bewegung selbst übernommen, bis er im Verlauf des 20. Jahrhunderts von der Kunst- und Literaturgeschichte systematisiert wird. Allerdings liegt das Verständnis eines jeden Avantgarde-Begriffs und seiner jeweiligen Definition im Ermessen der einzelnen nationalen Literatur- und Kunsthistoriografie. Bis zum Zweiten Weltkrieg steht der im Französischen bereits seit dem 19. Jahrhundert auch im kulturell-künstlerischen Kontext gebrauchte Avantgarde-Begriff vordergründig für die Bezeichnung fortschrittlicher und politisch engagierter Kunst und Literatur, wobei dem Künstler die Rolle des Vorreiters zugeteilt wird. Diese Bedeutung setzt sich zunächst im Französischen und bald auch in weiteren romanischen Sprachen, wie im Spanischen, durch (vgl. ebd., 7). Es folgen unzählige Taxonomien innerhalb des Avantgarde-Begriffs, die seine genaue Bedeutung brüchig machen. So wird beispielsweise zwischen historischer Avantgarde und Neo-Avantgarde unterschieden. Dabei ist mit historischer Avantgarde die auch als klassisch bezeichnete Avantgarde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemeint und unter Neo-Avantgarde – auch Post-Avantgarde – diejenige zu verstehen, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. Im Spanischen, unter Berücksichtigung anderer politischer Bedingungen, ist von primera y segunda vanguardia die Rede.12 Mit dem Begriff vanguardia wird, wie de Torre erklärt, als Pendant zu seiner französischen Ausgangsform eine Ganzheit bezeichnet, die eine ganze Reihe avantgardistischer Bewegungen, sogenannte Ismen, subsumiert:

      La vanguardia, tal como yo la entiendo, en su sentido más extensor y mayor, no ha significado nunca una escuela, una tendencia o una manera determinada. Sí el común de los diversos ismos echados a volar durante estos últimos años. […] Y a propósito, recientemente se ha publicado un inventario […] que los enumera así: futurismo, expresionismo, cubismo, ultraísmo, dadaísmo, superrealismo, purismo, constructivismo, neoplasticismo, abstractivismo, babelismo, zenitismo, simultanéismo, suprematismo, primitivismo, panlerismo. (de Torre 1971, 26)

      Die metaphorische Verwendung des Verbs „volar“ drückt im obigen Zitat die problematische Stellung der Ismen zueinander aus. Die Verkündung von Ismen ist ein typischer Akt der frühen Avantgarde, es wurden unzählige davon proklamiert. Manche wurden als die „wahren” Bewegungen der Avantgarde gekürt, andere sind gänzlich untergegangen. Allein bei der Betrachtung der von de Torre aufgezählten Ismos fällt auf, dass manche, wie beispielswiese futurismo, expresionismo, cubismo, dadaísmo, für die künstlerische Avantgarde repräsentativ sind, andere, wie neoplasticismo, abstractivismo, babelismo, zenitismo, simultanéismo, suprematismo, primitivismo, panlerismo (vgl. ebd.), bleiben eher unbedeutend. In diesem Zusammenhang betonen van den Berg und Fähnders, dass manche Ismen als Pars pro Toto der Avantgarde fungieren. Teilweise seien sie von der Historiografie, teilweise von Vertretern der Avantgarde selbst so eingeführt, um auf diese Weise ihrem Ismus mehr Gewicht zu verleihen (vgl. van den Berg/Fähnders 2009, 3). Jedenfalls werden die unterschiedlichsten Ismen unter dem Sammelbegriff Avantgarde zusammengetragen, sodass im Hinblick auf die breit gefächerte Vielseitigkeit der einheitliche Begriff Avantgarde infrage gestellt wird.