Poesía Visual im Spanischunterricht. Dr. Victoria del Valle Luque. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dr. Victoria del Valle Luque
Издательство: Bookwire
Серия: Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823300700
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sich von der Konkreten Poesie und gilt heute - gemeinsam mit seinen europäischen Entsprechungen visual poetry, poésie visuelle etc. - als Bezeichnung einer eigenständigen poetischen Gattung (vgl. Dencker 2011; Ernst 2012).

      Die beiden Autoren Boso und Gómez de Liaño unterschlagen zwar nicht die Bezeichnung, doch sehr wohl die künstlerische Bewegung, die bereits in Spanien etablierte poesía experimental, und passen sich, wie es zumindest in der Zeitschrift Akzente (1972) den Anschein macht, den damaligen poetischen Konventionen der Konkreten Poesie an. Boso erklärt die poesía experimental zu einem (späten) spanischen Beitrag der Konkreten Poesie und lässt erahnen, dass er sie, wenn nicht als Genre, so doch als Synonym versteht:

      Zu was also hier und im Jahre 1972 diese Auswahl an spanischer experimenteller Dichtung? Um es vorweg zu sagen: weil sie eben dabei ist, in Spanien populär zu werden. […] Gewiß ist jedenfalls, daß in der Abenddämmerung der konkreten Dichtung ihr spanischer Beitrag erst wichtig wird. (Boso 1972, 300)

      Allerdings ist poesía experimental im spanischsprachigen Kontext, wie im Folgenden dargestellt, letztendlich die kontinuierliche und daher angemessenere Bezeichnung (vgl. Millán/García Sánchez 2005 [1975], 12).

      1.2.2 Die begriffliche Erklärung von Poesía Visual im Kontext der vanguardia

      Die Entwicklungen und Zusammenhänge von Poesía Visual und poesía experimental sind insbesondere in der sogenannten segunda vanguardia, der Wiederaufnahme und Fortführung der Avantgarde ab den 1960er Jahren in Spanien, zu beobachten. Die Bezeichnung poesía de vanguardia ist der Versuch, einer überaus unübersichtlichen Wechselwirkung von Film, Musik oder plastischer Kunst und poetischer Praxis einen Namen zu geben. Mit den Worten Fernández Serratos „quiere [la poesía de vanguardia] aglutinar experiencias más o menos novedosas desarrolladas del medio literarios, cinematigráfico, musical y plástico“ (Fernández Serrato 1995b, 45). Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis des Ausstellungskataloges Poesía Internacional de vanguardia (Madrid, April 1970) zeigt, inwiefern poesía de vanguardia als übergeordneter Begriff verwendet wurde:

       poesíaconcreta poesíacinética

      carteles objetos libros films

       poesíaespacial poesíaobjetiva

      revistas cintasmagnetofónicas

       poesía n.o. poesíasemiótica

      discos serigrafías grabados y

       poesíaexperimental poesía n.o.

      fotomontajes librósobjeto [sic] y

       poesía-simbiótica metaart zaj

      plásticos revistas objetos y

       poesíagráfica poesíavisual y

      carteles objetos libros films

       verbofonía poesíasemántica y

      cintasmagnetofónicas grabados

       música poesíamatemática y zaj

      diseños serigrafías grabados

       poesíavisiva poesíatecnológic

      fotomontajes grabados objetos

       poesíasónica poesíacinética

      plásticos revistas grabados

      músicaelectrónica poesía n.o. (vgl. Díez Borque 1973, 41)

      Auffällig ist, neben den vielen als poesía de vanguardia geltenden Genres, der Zusammenhang mit audio-visuellen Medien („cintasmagnetofónica, serigrafías, films“), womit die Hinwendung zum technischen Fortschritt und mit ihr die avantgardistische Haltung abermals deutlich wird. Es ist möglich, dass die Wiederaufnahme des Begriffs vanguardia als Bezeichnung poetischer Praktiken lediglich den Wunsch der spanischen Künstlerinnen und Künstler manifestiert, die „nueva poesía“ als einen „paso más allá de la evolución del arte“ zu sehen (Fernández Serrato 1995b, 46). Es wäre auch denkbar, dass die infolge des Bürgerkriegs und der anschließenden Franco-Diktatur versäumte Zeit wieder aufgegriffen und erlebt werden musste, was den Zusammenhang zu den Grundsätzen der Avantgarde erklären würde (vgl. ebd.).

      Für die begriffliche Entwicklung ist poesía de vanguardia eher ein historischer Terminus. Er wird dem frühen 20. Jahrhundert, sei es der klassischen oder der Neo-Avantgarde, zugeordnet und läuft deshalb nicht Gefahr, mit poesía experimental oder poesía visual verwechselt zu werden. Vielmehr hat poesía de vanguardia den Weg für poesía experimental und ferner Poesía Visual geebnet: In dem 1973 erschienenen Themenschwerpunkt Literatura Experimental der Zeitschrift El Urogallo (Soriano/Montero 1973) beziehen verschiedene Theoretiker und Dichter (u. a. José María Díez Borque, Jesús García Sánchez, Alfonso López Gradolí oder Fernando Millán) zum Begriff poesía experimental erstmals Stellung. In der Diskussion um „lo experimental“ postuliert Millán, dass es sich eher um einen Terminus technicus handele als um „una nueva forma de hacer poesía“ (Millán 1973, 45). Es wird insbesondere die von Max Bense (1954, 15) lancierte Theorie des Experiments in der Dichtung aufgenommen (vgl. Lanz Rivera 1992, 57). Bense versteht das Werk deshalb als Experiment, weil es zum einen als Kontinuum im Prozess nie als abgeschlossen gelten darf und - als Konsequenz daraus - zum anderen eine Vielfalt an Lesarten zulässt (vgl. ebd.). Poesía experimental ist daher eine Bezeichnung, die den Modus Operandi fokussiert (vgl. Fernández Serrato 1995b, 51/52). Das Experiment selbst zielt nicht auf ein Ergebnis ab, sondern nur auf den Prozess, weshalb es nie als abgeschlossen gilt. Die Vielzahl von Varianten des poetischen Experimentierens entsteht aus der Hybridisierung der Bestandteile von Dichtung mit einer anderen künstlerischen Ausdrucksform (Musik, darstellende Kunst, bildende Kunst etc.) (vgl. del Villar 1974). Die Gemeinsamkeit all dieser verschiedenen Genres liegt lediglich im experimentellen Charakter ihrer Techniken. Alle möglichen Varianten der poesía experimental zu bestimmen, ist daher unmöglich. Je nach technischen Verfügbarkeiten, was in Anbetracht der digitalen Wende während der 1990er Jahre besonders relevant wird, erweitern sich die Möglichkeiten des Experimentierens und der daraus entstehenden Varianten entsprechend.

      Poesía experimental ist also ein allgemein gehaltener Oberbegriff für eine heterogene und vielschichtige Gruppe, unter der alle denkbaren poetischen Manifestationen subsumiert werden, die Überschreitungen von verschiedenen künstlerisch-medialen Ausdrucksformen erkennen lassen. Sie zu typisieren, erweist sich daher als äußerst schwierig. Es lassen sich dennoch einige Kategorisierungen und Typologien finden, die den Versuch aufzeigen, Struktur in die komplexe Vielfalt zu bringen. Lanz Rivera beispielsweise gruppiert die unzähligen Varianten der poesía experimental in zwei kategorische Untertypen (1992, 66): poesía visual und poesía fónica. Jene poemas, die sich der Visualität von Sprache widmen, ordnet er der Poesía Visual zu, und jene, die das Akustische hervorheben, der poesía fónica. Diese kategorische Zweiteilung ist insofern bedenklich, als sie nur bedingt die vielen Schnittmengen zwischen visuell und akustisch oder gar anderen Formen, wie etwa poesía acción (darstellende Gedichte), berücksichtigt. Félix Morales Prado (2004, 11 ff.) versucht der Heterogenität der poesía experimental in seiner Typologie gerecht zu werden und beschreibt neun Typen: „letrismo, poesía concreta, poesía fonética, poesía semiótica (o ícono-verbal), poema objeto, poesía acción, poema propuesta, videopoema, poesía cibernética“ (ebd.).

      Inwiefern diese Typologien die einzelnen Typen sinnvoll definieren, mag dahingestellt bleiben. Indes lässt sich mit ihrer Hilfe der Zusammenhang zur Poesía Visual bestimmen. Anhand der dargestellten Eigenschaften der poesía experimental wird klar, dass Poesía Visual als deren Genre zu verstehen ist.

      Des Weiteren lässt sich festhalten, dass das Visuelle die wohl stärkste