Poesía Visual im Spanischunterricht. Dr. Victoria del Valle Luque. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dr. Victoria del Valle Luque
Издательство: Bookwire
Серия: Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823300700
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weil sie a) nicht-zufällig entstehen und b) sich aus selektierter und kombinierter Sprache zusammensetzen. Poesía Visual ist daher, nach Brossas Verständnis, eine nicht-zufällige, selektierte und kombinierte visuell-verbale sprachliche Ausdrucksform.

      Nicht zu ignorieren ist schließlich der Umstand, dass Poesía Visual als grenzüberschreitendes hybrides Konzept nur bedingt definierbar ist. Aufgrund ihrer Anwendung „en un proceso abierto y cambiante“ (Fernández Serrato 1995b, 43) erweist sich auch darüber hinaus eine Klassifizierung als schwierig.

      Auf die Frage, was Poesía Visual ist, biete ich folgende Definition an, die sowohl an den herangezogenen theoretischen Definitionen als auch den Stellungnahmen der Dichter anknüpft.

      Im Rahmen der vorliegenden Dissertation wurden mit Dichterinnen und Dichtern aus der aktuellen Szene in Spanien schriftliche Interviews geführt (siehe Anhang 1) und Stellungnahmen zur aktuellen Poesía Visual eingeholt. Es wurden insgesamt 20 Dichterinnen und Dichter angeschrieben. Von ihnen haben 14 (12 Dichter und 2 Dichterinnen) dem Interview zugestimmt und die Fragen schriftlich (digital) beantwortet.5 Die Stellungnahmen geben Aufschluss über das Selbstverständnis der Poesía Visual. Die Antworten fließen mit inhaltlich vergleichbaren Publikationen (vgl. Fernández Serrato 1995a; Reglero 2013), in die folgende Definition sowie in die Reflexionen über das Selbstverständnis der Poesía Visual, poética interna, ein (vgl. Kapitel 1.3.2.2).

      Unter Berücksichtigung dessen verstehe ich Poesía Visual im Rahmen meiner Forschungsarbeit als ein Genre der poesía experimental, in dem eine Botschaft mittels bildlicher und schriftlicher Codes (ikonischer und symbolsicher Zeichen) verdichtet wird. Ich untersuche hier lediglich jene Produktionen ab den 1970er Jahren, die auf der iberischen Halbinsel entstanden sind.6

      1.2 Zur Begriffsklärung: Poesía experimental, poesía concreta oder poesía visual?

      Eine Betrachtung der Poesía Visual7 gestaltet sich insofern als schwierig, als es sich um ein begrifflich äußerst inkonsistentes Phänomen handelt. Die Bezeichnungen wie poesía concreta, poesía concreto-visual oder poesía experimental, die auf ein verwandtes Phänomen hindeuten, stellen sich als irreführend heraus, denn die Begriffe werden teilweise synonym verwendet. Dieses grundsätzliche „problema de la denominación“, wie Juan Carlos Fernández Serrato es nennt, erweist sich als regelrechte Begriffsverwirrung, die es im Folgenden zu beseitigen gilt (1995b, 43 ff., und 2003, 21 ff.). Dabei soll es vor allem darum gehen, diese tradierten Begriffe im Kontext und in Beziehung zur Poesía Visual nachzuzeichnen, um damit einem Definitionskonflikt auszuweichen.

      Die Begriffskonfusion hat zwei Ursachen: Zum einen wurden die Bezeichnungen poesía concreta und poesía visual von der deutschen Tradition der Konkreten Poesie beeinflusst, zum anderen ist poesía experimental ein Begriff, der sich in der spanischen segunda vanguardia als Oberbegriff für verschiedene poetische Praktiken entwickelt hat. Die sich zum Teil überlappenden Bedeutungen der vorliegenden Bezeichnungen beruhen auf der grenzüberschreitenden Tendenz der jeweiligen künstlerischen Ausdrucksformen. Poesía visual, poesía experimental, poesía concreta etc. liegen nicht sehr nah beieinander, sondern vielmehr ineinander, sodass sie nur bedingt isoliert voneinander betrachtet werden können. Die synonyme Verwendung der Bezeichnungen und die damit einhergehende Begriffsverwirrung ergeben sich demnach als logische Konsequenz.

      Poesía concreta ist neben Poesía Visual eine Erscheinung, die - wie im Zusammenhang mit der Konkreten Poesie noch näher erläutert wird - als Teilgebiet der poesía experimental angesehen werden kann. Hingegen bezeichnet poesía de vanguardia die Dichtkunst der (Neo-)Avantgarde, die als übergeordnetes Konzept poesía concreta und poesía experimental mit einschließt. Bevor genauer auf die beiden Ursachen für die Begriffsverwirrung eingegangen wird, soll die folgende Grafik veranschaulichen, wie die Beziehung der diskutierten Bezeichnungen zueinander zu verstehen ist (Abbildung 1).

      Abbildung 1.

      Die Begriffe poesía de vanguardia, poesía experimental, poesía concreta und poesía visual im Zusammenhang.

      1.2.1 Poesía experimental in der Tradition der Konkreten Poesie

      In den 1970er Jahren führen verschiedene Kausalitäten dazu, dass die Theorien und auch Praktiken der deutschsprachigen Konkreten Poesie in das Umfeld der spanischen poesía experimental geraten und deren Begriffskonstitution beeinflussen. Der in Deutschland wohnhafte Felipe Boso und Ignacio Gómez de Liaño, beides Dichter und Verfasser zahlreicher theoretischer Arbeiten über die spanische visuelle Dichtung, veröffentlichen in der Literaturzeitschrift Akzente (1972) unter dem Titel Experimentelle Dichtung in Spanien dreißig zeitgenössische Gedichte. Sie präsentieren dabei die spanische poesía experimental als Variante der Konkreten Poesie, ohne die Bezeichnungen explizit zu erläutern, und versuchen, vermutlich im Hinblick auf die deutsche Leserschaft, sich dem deutschen Diskurs der Konkreten Poesie anzuschließen. Gómez de Liaño beleuchtet den möglichen Einfluss der brasilianischen8 und deutschen Konkreten Poesie auf die spanische experimentelle Poesie und leitet daraus eine zusammenhängende Entwicklung ab (1972, 291 f.). Eine solche Schlussfolgerung ist nicht abwegig, denn sie ist anhand von Fakten belegbar: Während des „tardofranquismo“ (Fernández Serrato 1995a, 269) in den 1960er Jahren, als Spanien unter der Zensur der faschistischen Diktatur leidet, verbreiten beispielsweise Eugen Gomringer und Reinhard Döhl systematisch die Ideen des deutschen Konkretismus. Dies geschieht im Rahmen der Vortragsreihe Conferencia pronunciada en el ciclo. Nuevas tendencias: poesía, música, cine im Instituto Alemán in Madrid (Dezember 1967) und deren anschließenden Veröffentlichung (1968) (vgl. ebd.; López Gradolí 2008, 114).9 Was die Autoren damals wahrscheinlich nicht wissen, ist die Tatsache, dass etwa zur gleichen Zeit im deutschsprachigen Konkretismus intensive Diskussionen im Hinblick auf die Begriffe konkret und visuell aufkommen. Daran maßgeblich beteiligt sind unter anderem Eugen Gomringer selbst (1972) wie auch Max Bense (1972), Klaus Peter Dencker (1972), Siegfried J. Schmidt (1971, 1974) sowie später Heinz Gappmayr (1978) und Christina Weiss (1984). Sie alle versuchen in langen Traktaten, die Begriffskonfusion aufzuklären. Diese war dadurch entstanden, dass der von Gomringer analog zur Konkreten Kunst10 etablierte Begriff Konkrete Poesie in theoretischen Positionen programmatisch beschrieben und von den Dichterinnen und Dichtern übernommen worden war (vgl. Stieg 1979, 43). Konkret wird in diesem Zusammenhang nach philosophischen Grundsätzen als Eigenschaft verstanden, die einem Gegenstand zusteht, der real wahrnehmbar, also sichtbar und greifbar ist (vgl. Kopfermann 1974, X). Dementsprechend beansprucht die Konkrete Poesie in ihren Anfängen das weite Gebiet des Konkreten für sich. Dies führt dazu, dass unter Konkreter Poesie alles bezeichnet wird, was sich mit der konkreten, materiellen Gestalt von Sprache beschäftigt. In diesem Sinne wird auch Visualisierung als Konkretisierung verstanden. Konkrete Poesie gilt in diesem Kontext folglich als Überbegriff für alle poetischen Entwicklungen, die die äußere Gestalt von Sprache (den Saussure’schen signifiant) zum Thema haben. Diese Art von Generalisierung berücksichtigt jedoch in keiner Weise die lange Tradition der Visuellen Poesie. Nicht zuletzt deshalb widmen sich auch neuere wissenschaftliche Untersuchungen der historischen Entwicklung (vgl. u. a. Alcón Alegre 2005; Dietz/Gálvez 2013; Millán Domínguez 1999; Muriel Durán 2000; Pineda 2002). Anhand der historischen Entwicklung zeigt sich, dass es sich bei der Visuellen Poesie eben nicht um ein Genre der konkreten oder experimentellen Dichtung, sondern um eine eigene, traditions- wie typenreiche Gattung handelt. Infolge ihrer literaturhistorischen Unkenntnis zeichnete sich bei den Vertretern der Konkreten Poesie indes die Tendenz ab, die Begriffe konkret und visuell synonymisch zu verwenden. Im Verlauf der Zeit wurde die Visuelle Poesie schließlich zu einem Genre der Konkreten Poesie erklärt, was letztendlich die Begriffsverwirrung provozierte (vgl. Dubiel 2004, 10). Gomringer beschreibt in diesem Zusammenhang visuelle Gedichte als „in den meisten fällen seh-gegenstände, seh-texte, die unter dem überbegriff ‚konkrete poesie‘ angeboten werden“ (1996, 9; Kleinschreibung v. d. Verf. übernommen). Primär lanciert durch literaturhistorische Forschungen über Visuelle