Spannung und Textverstehen. Philip Hausenblas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Philip Hausenblas
Издательство: Bookwire
Серия: Tübinger Beiträge zur Linguistik (TBL)
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823300632
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Reihenfolge der Ereignisse. Der Leser ist vorinformiert und fragt sich, wie es ausgehen wird. Er antizipiert eine signifikante Folge für eine Figur, die nur partiell informiert ist. Die Leser-Emotionen sind verschieden von den Figuren-Emotionen.20 Da die Figur nicht über den Plan des Angreifers informiert ist, handelt es sich beim diesem Effekt um die Art, die Hitchcock in seinen Filmen regelmäßig benutzte und die er in dem berühmten Interview mit Truffaut ausgeführt hat. Der Ansicht des Master of Suspense führt diese Form zu den intensivsten Zuschauerreaktionen.21

      Ein Beispiel für Curiosity von Brewer und Lichtenstein:

(5) Charles fell dead. The police came and found the broken glass, etc.

      Bei diesem Mittel Spannung zu erzeugen, muss die tatsächliche Ereignisstruktur mit einem bedeutungsvollen Ereignis beginnen. In der Darstellung des Geschehens wird dieses allerdings ausgelassen. Der Leser bekommt genug Informationen, um zu wissen, dass vorher etwas vorgefallen ist, das Informationsdefizit muss ihm bewusst sein. Auf diese Art und Weise wird seine Neugier auf das zurückliegende Ereignis gelenkt. Im weiteren Textverlauf wird die ausgelassene Information nachgereicht, sodass der Leser das bedeutungsvolle Ereignis rekonstruieren kann und die Spannung aufgelöst ist.22

      Mit den Forschungsarbeiten von Brewer und Lichtenstein erlöscht dieser durch Sternberg angeregte Untersuchungszweig.

      2.2.3 Carroll

      Fragen kontrollieren die Erwartungen des Zuschauers. Während Brewer und Lichtenstein auf Sternberg Bezug nimmt, beschreibt der US-amerikanische Philosoph Noël Carroll unabhängig von den Forschungsergebnissen dieser Autoren den Suspense und das Curiosity. Seine Untersuchungen beziehen sich auf Filme. Carroll zufolge stellt der Zuschauer bei der Filmrezeption ununterbrochen Fragen. In der Regel geschieht dies unbewusst. Sobald ein Film allerdings angehalten wird, dringen die Fragen an die Oberfläche und werden sprachlich realisiert.23

      Die Fragen werden ausgelöst durch audiovisuelle Ereignisse.24 Fragen und Antworten verbinden audio-visuelle Einheiten verschiedener Ausdehnung. Von Szenen bis hin zum gesamten Text.25

      Anzahl möglicher Antworten, zeitliche Dimension, Moral. Spannung beschreibt Carroll unter Rückgriff auf Fragen. Sie konstituieren fictions of uncertainty. Die Abgrenzung zwischen dem Suspense und dem Curiosity basiert auf der zeitlichen Dimension dieser Spannungstypen. Demnach sind die Fragen entweder zukunfts- oder vergangenheitsgerichtet.26 Als ein weiteres Abgrenzungskriterium dient die Anzahl möglicher Antworten auf eine Frage. Um die beiden Spannungstypen voneinander zu trennen, greift er unter anderem zurück auf die Unterscheidung in Entscheidungsfragen, bei denen es nur zwei mögliche Antworten gibt, die sich logisch ausschließen, und Ergänzungsfragen, die mehrere, sich nicht ausschließende Möglichkeiten besitzen.27

      Das Curiosity charakterisiert er als offene Ergänzungsfragen. Beim Genre Kriminalgeschichte fragt sich der Leser zum Beispiel, welche Motive den Täter leiten. Grundsätzlich sind eine Reihe verschiedener Möglichkeiten denkbar, die einzeln vorkommen können oder gleichzeitig wahr sein können. Dieser Spannungstyp ist vergangenheitsbezogen.28

      Suspense ergibt sich bei einer Entscheidungsfrage, die sich auf die Zukunft bezieht. Allerdings erzeugt nicht jede zukunftsgerichtete Frage Spannung. Zusätzlich benötigt der Suspense eine moralische Dimension. Von den zwei möglichen Antworten muss eine Möglichkeit unwahrscheinlich und moralisch korrekt und die andere wahrscheinlich und moralisch fragwürdig sein.29

      I am holding that, in the main, suspense in film is (a) an affective concomitant of an answering scene or event which (b) has two logically opposed outcomes such that c) one is morally correct but unlikely and the other is evil and likely.30

      Die Moral basiert auf einer Alltagsmoral. Sie kann durch tugendhafte Szenen vermittelt werden, in denen der Protagonist zum Beispiel seine Tapferkeit unter Beweis stellt. Sie muss nicht zwangsläufig mit der außermedialen Realität übereinstimmen, in diesem Fall kann ein Moralsystem relativ zum jeweiligen Film entstehen. Zugleich steht beim Suspense etwas auf dem Spiel. Gefahren müssen hervorgehoben werden. Sie drohen sich in unmittelbarer Zukunft einzustellen.31

      Die Wahrscheinlichkeiten müssen betont werden (adding probability factors). Im Film entsprechen sie nicht den Wahrscheinlichkeiten in der Welt der Rezipienten. Man darf sich auch nicht dazu verleiten lassen, den Begriff technisch zu verstehen. Während der Rezeption greift der Zuschauer nicht auf seine stochastischen Fähigkeiten zurück, er versucht also nicht, die Wahrscheinlichkeit bis auf die dritte Ziffer hinter dem Komma zu berechnen.32

      Mikro-, Makroebene und Rekursivität. Carroll unterscheidet zwischen Spannung auf der Mikro- und auf der Makro-Ebene. Die Zuordnung ergibt sich aus der textuellen Distanz zwischen Frage und Antwort.33

(6) Wird James Bond dem brennenden Aufzug entkommen?
(7) Wird das Gute oder das Böse siegen?

      (6) und (7) geben mögliche Suspensefragen wieder, die der Rezipient während der Rezeption aufwerfen kann. In (6) handelt es sich um eine Frage, die die augenblickliche Situation in einem Film betrifft, sie siedelt sich daher auf der Mikroebene an. In (7) liegt eine Frage vor, die sich auf das Gesamtwerk bezieht und daher in den Bereich der Makrofragen eingeordnet wird.

      Makro- und Mikro-Fragen können in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen. Die Antwort von Mikro- und Makrofragen können sich überschneiden. Fragen und Antworten verbinden Szenen, aber auch gesamte Texte.34

      Auf der Grundlage von Fragen lassen sich verschiedene Funktionen von Szenen klassifizieren. Carroll unterscheidet zwischen a) Szenen, die dem Rezipienten Orientierung (establishing shot) bieten (zum Beispiel wird die Fifth Avenue gezeigt, bevor ein Büro gezeigt wird) und die nicht unbedingt Fragen aufwerfen muss. Daneben gibt es b) Szenen, die eine Frage aufwerfen (questioning scene), c) Szenen, die eine Antwort liefern (answering scene), d) Szenen, die Fragen aufrechterhalten oder verstärken (sustaining scene), e) Szenen, die eine Antwort geben und zugleich eine neue Frage aufwerfen, und letztendlich f) Szenen, die Teilantworten bereitstellen (incomplete answering scene). In diesem Fall erstrecken sich Antworten über mehrere Szenen. Je größer die Anzahl solcher Szenen in einem Film ist, desto komplexer ist der Film. In Szenen können die einzelnen Film- bzw. Textelemente eine Vielzahl anderer Funktionen gleichzeitig übernehmen. Nicht alle Szenen dienen dem Fragen-Aufwerfen. Darüber hinaus gibt es Szenen, die Antworten moralisch färben.35

      Um Spannung zu analysieren, müssen diejenigen Szenen bestimmt werden, die Fragen auslösen und erhalten. Zugleich bietet es sich an, einerseits Szenen herauszusuchen, die mögliche Antworten moralisch situieren, und andererseits, Szenen zu isolieren, die Wahrscheinlichkeiten zuordnen.36

      Ein Film wird als Suspensefilm klassifiziert, wenn eine Suspensefrage das Werk auf der Makroebene überspannt, wenn statt einer suspensevollen Makrofrage eine Reihe von Suspense-Mikrofragen aufeinanderfolgen und wenn entscheidende Szenen mit Suspense beladen sind.37

      2.2.4 Zillmann

      Positive und negative Ausgänge. Der US-amerikanische Psychologe Dolf Zillmann greift bei seiner Suspense-Definition auf mögliche zukünftige Entwicklungen der Geschichte zurück und untersucht diese innerhalb des Mediums Film. Dabei unterscheidet er zwischen solchen Ausgängen, die einen Anreiz darstellen, und solchen Ausgängen, die eine Bedrohung darstellen. Als Anreiz dient häufig eine soziales, finanzielles oder erotisches Gut. Die Bedrohung ergibt sich in der Regel dadurch, dass der Protagonist einer unmittelbaren Gefahr ausgesetzt ist, Leib und Leben sind bedroht. Als Beispiel nennt Zillmann eine Schiffskatastrophe oder die Besteigung eines Berges, in beiden Fällen befinden sich Figuren in lebensbedrohlichen Situation. Häufig sind Bedrohung und positiver Anreiz aneinander gekoppelt. Sollte die