Spannung und Textverstehen. Philip Hausenblas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Philip Hausenblas
Издательство: Bookwire
Серия: Tübinger Beiträge zur Linguistik (TBL)
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823300632
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und in kompakter Form vorläufig beschrieben.

(1) Der Physiker Leonardo Vetra roch brennendes Fleisch, und es war sein eigenes.8

      (1) stellt den Initialsatz dar aus dem internationalen Bestseller Illuminati vom amerikanischen Erfolgsautor Dan Brown. Auf der Grundlage des Textes und seines Wissens konstruiert der Rezipient das zukünftige Ereignis, dass der Wissenschaftler sterben wird. Dass dem Physiker dieses Schicksal bevorsteht, steht nicht im Text. Es ist ein Ergebnis rezipientenseitiger Prozesse.

      Hans-Jürgen Wulff zufolge zeichnet sich diese Art der Spannungserzeugung dadurch aus, dass der Rezipient einen negativen Ausgang ableitet, der nicht im Text steht. Der Rezipient wird an den Text gebunden, bis aufgelöst wird, ob sich die inferentiell hergestellte Konsequenz tatsächlich realisiert oder nicht.9 Dieser Spannungstyp wird Suspense genannt. Zu den zentralen Autoren, die sich wissenschaftlich mit diesem Typ auseinandergesetzt haben, zählen neben Wulff auch William F. Brewer, Noël Carroll, Meir Sternberg, Dolf Zillmann sowie Paul Comisky und Jennings Bryant. In Kapitel 8 wird der Suspense ausführlich behandelt. Zugleich kann ein Satz wie (1) einen Curiosity-Effekt hervorrufen, wie er im folgenden Beispiel vorgestellt werden.10

(2) Der Aufruhr im Breidenbacher Hof war groß.11

      Im Initialsatz (2) aus dem Roman Königsallee des deutschen Schriftstellers Hans Pleschinski wird im Text eine Situation beschrieben, die der Rezipient als Wirkung oder Folge eines vorangegangenen Ereignisses interpretiert und dessen Ursache er nicht aus seinem Wissen ableiten kann. In dem Beispiel kann der Rezipient nicht erklären, warum das Düsseldorfer Luxushotel in großen Aufruhr versetzt war. Dass es eine Ursache gibt, steht nicht im Text. Der Rezipient reichert also auch hier die Textwelt inferentiell an und wartet darauf, dass der Text die Ursache offenbart. Für diese Art der Spannungserzeugung hat sich die Bezeichnung Curiosity etabliert. Das Curiosity wird bei Sternberg, Carroll sowie Brewer behandelt. In Abschnitt 9.1 wird dieser Spannungstyp im Detail besprochen.

(3) An einem schneegepeitschten Abend im Januar 1991 verließ Jonathan Pine, der englische Nachtmanager des Palasthotels Meister in Zürich, seinen Platz hinter dem Empfangstisch und bezog, erfüllt von ihm bis dahin unbekannten Gefühlen, seinen Posten im Foyer, um im Namen seines Hotels einen vornehmen späten Gast willkommen zu heißen. Der Golfkrieg hatte gerade angefangen.12

      (3) gibt die ersten zwei Sätze aus dem Roman John Der Nachtmanager von John le Carré wieder. Der erste Satz beschreibt alltägliche Vorgänge in einem Züricher Hotel, der zweite Satz beschreibt die politische Situation in einem weit entfernten Land. Der Rezipient versucht die Sätze in ein kohärentes mentales Textweltmodell zu integrieren. Da es keine unmittelbare Anschlussmöglichkeiten zwischen den beiden Sätzen gibt, erscheint der Text zunächst inkohärent. Diesem Typen liegt das rezipientenseitige Ziel zugrunde, ein kohärentes Diskursmodell zu erlangen. Der Rezipient geht auf der Grundlage seines Wissens davon aus, dass es einen, wenn auch entfernten Zusammenhang zwischen beiden Sätzen gibt. Dass ein möglicher Zusammenhang existiert, steht nicht im Text. Es wird vom Rezipienten auf der Grundlage seines Wissens ergänzt. Dieser Fall wird unter dem metaphorischen Begriff des Puzzles besprochen und er wird von Graham Petrie sowie Wolfgang Iser beschrieben, wobei er Iser zufolge mit einer Kompositionsleistung des Rezipienten einhergeht. In Abschnitt 9.2 wird dieser Typ kognitionslinguistisch untersucht.

      Damit ein Rezipient Spannung erleben kann, ist es wichtig, dass dieser die Textwelt für real hält. Zur textintern aufgebauten Realität schreibt Monika Fludernik, dass diese nicht unbedingt mit der Lebenswelt des Rezipienten übereinstimmen muss, es kann sich auch um eine abweichende Wirklichkeitkonstitution handeln wie zum Beispiel in einem Fantasy-Roman.13 Daher handelt es sich in der Regel um eine Realitätsillusion.14

      Die Realitätsillusion kann unter anderem durch textimmanente Signale etabliert werden. Ein Text suggeriert Realitätsnähe zum Beispiel dadurch, dass Ereignisse und Handlungen innerhalb der Textwelt plausibel erscheinen, sie sollten sich nicht als unmotiviert, beliebig oder zufällig darstellen.15 Ebenso kann die Illusion verstärkt werden durch Details, die aus der Perspektive des Rezipienten keine unmittelbare Relevanz für den Verlauf einer Geschichte besitzen (rückblickend können sie sich als wichtig erweisen). Roland Barthes spricht in diesem Fall von Realitätseffekten, französisch effet de réel.16 Kommentare von Erzählern und stilistische Techniken hingegen wie zum Beispiel eine auffällige Syntax in einem Gedicht lenken die Aufmerksamkeit von der Textwelt weg und verschieben sie hin zur textproduzierenden Instanz. Dadurch besitzen sie einen spannungshemmenden Effekt.17

      Als Leser dieser Arbeit muss man also als Voraussetzung im Hinterkopf behalten, dass ein spannungsvoller Text in der Regel eingebettet ist in einen realitätssuggerierenden Rahmen. Im Idealfall wurde zusätzlich eine positive Relation zu einzelnen Figuren aufgebaut. Da die Arbeit versucht, Spannung in abstrahierter und verdichteter Form zu beschreiben, werden realitätsstiftende und Figuren beschreibende Textsegmente ausgelassen – anderenfalls würde die Arbeit in einem unüberschaubaren Umfang aufgebläht werden.

      Da die Forschungsliteratur im Bereich der Spannung sich auf vergleichsweise wenige Beiträge beschränkt, erweisen sich sowohl die jeweiligen Beschreibungsmodelle als auch die Fälle, die diskutiert werden, als sehr heterogen. Zugleich verteilen sich diese Beiträge auf so unterschiedliche Disziplinen wie die Literaturwissenschaft, Filmwissenschaft, Psychologie und Philosophie, wobei die Untersuchung in der Regel relativ frei von den Ergebnissen anderer Forscher und Wissenschaftsdisziplinen stattfindet. Die Auswahl dieser drei Spannungstypen kann daher nur zum Teil durch die Forschungslage begründet werden. Als weitere Auswahlkriterien werden deshalb die Frequenz und die werkimmanente Relevanz eines Spannungstyps herangezogen. Die drei genannten Spannungstypen tauchen einerseits am häufigsten in Texten auf, zugleich besitzen sie das Potential, größere Teile eines Textes bis hin zu gesamten Werken zu umspannen. Die Unterscheidung in Suspense und Curiosity stammt von Sternberg, das Puzzle beschreiben Iser sowie Sternberg, wobei die Bezeichnung von Gulino stammt.

      Bei allen drei Haupttypen der Spannung reichert der Rezipient die Textwelt auf der Grundlage seines Wissens an. Wie dieser Ausbau der Textwelt zu Spannung führt, lässt sich auf die zentrale konstruktivisitische Grundannahme zurückführen, die sich in verstehensorientierten Theorien findet. Diesem Paradigma zufolge strebt ein Rezipient beim Lesen danach, zu einer ganzheitlichen und kohärenten mentalen Repräsentation zu gelangen, er folgt aktiv dem Prinzip des search after meaning.18 Deshalb versucht er Ursachen herauszufinden, Zusammenhänge herzustellen und den tatsächlichen Wahrheitswert von negativen Konsequenzen zu bestimmen. So erfährt der Rezipient den Wunsch, die Spannung aufzulösen.

      1.4 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit

      Die Hauptziele der Arbeit. Diese Arbeit verfolgt das Ziel, das Verhältnis auszuloten zwischen der Spannungsforschung und einer verstehensorientierten, kognitiven Linguistik.19 Dabei wird gezeigt, dass beide Disziplinen eine Vielzahl von Implikationen für die jeweils andere besitzen und dass beide voneinander lernen und profitieren können. Drei Kernziele stehen im Mittelpunkt:

       Das erste Hauptziel besteht darin, die Auslöser der oben genannten zentralen Spannungstypen aus der Perspektive der kognitionslinguistischen Textverstehenstheorie systematisch zu präzisieren.

       Das zweite Hauptziel besteht darin, zu zeigen, dass spannungsauslösende Elemente als Grundlage für die Verarbeitung darauffolgenden Textmaterials dienen können, was sowohl direkt angrenzende als auch weit über einen Text verstreute Diskurssegmente betreffen kann.

       Das dritte Hauptziel besteht darin, herauszuarbeiten,welchen Beitrag die verstehensorientierte Linguistik zur Erforschung von Spannung leisten kann undwelchen Beitrag die Erforschung von Spannung für diesen Zweig der linguistischen Forschung leisten kann.

      Aufbau der Arbeit. In Kapitel