Spannung und Textverstehen. Philip Hausenblas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Philip Hausenblas
Издательство: Bookwire
Серия: Tübinger Beiträge zur Linguistik (TBL)
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823300632
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thematisiert. Damit wird ein Thema vernachlässigt, dass in dieser Arbeit im Mittelpunkt steht.

      Im Folgenden werden einige Beiträge vorgestellt. Zunächst werden textexterne Spannungstheorien kompakt skizziert. Im Anschluss werden die zentralen Ansätze zur Spannung vorgestellt, die präzisere Versuche darstellen, das Phänomen greifbar zu machen.

      2.1 Textexterne Spannungstheorien

      Es gibt Ansätze, die sich auf einer fundamentaleren Ebene mit dem Phänomen der Spannung beschäftigen. Sie widmen sich der Frage, warum Spannung überhaupt entstehen kann, ohne die Textebene genauer in die Untersuchungen mit einzubeziehen. Beispielhaft werden im Folgenden zwei ausgewählte Ansätze knapp zusammengefasst.

       Spannung und der Zeigarnik-Effekt: Den Zeigarnik-Effekt hat die russische Psychologin Bljuma Wulfowna Seigarnik in dem Aufsatz „Das Behalten erledigter und unerledigter Handlungen“ beschrieben. Der Aufsatz beschäftigt sich mit dem Phänomen, dass sich nicht vollendete Handlungen besser ins Gedächtnis einprägen als abgeschlossene. Zeigarnik führt dieses Phänomen darauf zurück, dass der Mensch ein generelles Bedürfnis besitzt, einmal angefangene Aufgaben abzuschließen.6 Katja Mellmann überträgt diesen Ansatz auf die Rezeption spannungsvoller Texte. Dabei identifiziert sie unaufgelöste Spannung mit einer ungelösten Aufgabe. Unaufgelöste Spannung setzt sich im Gedächtnis fest und schafft ein Bedürfnis nach Auflösung.7

       Spannung als Kontrollverlust: Peter Wuss bietet auf der Grundlage des Psychologen Rainer Oesterreich und dem daraus entwickelten Ansatz von Dömer, Reither und Stäudel eine Spannungsbestimmung im Bereich des Suspense. Oesterreich unterteilt beim Menschen verschiedene Bedürfnisebenen. Zu den Primärbedürfnissen zählt er das Bedürfnis nach Kontrolle. Das ermöglicht dem Menschendie Umwelt oder die Innenwelt nach seinen Wünschen beeinflussen zu können (aktive Kontrolle) oder doch die Entwicklungen in der Zukunft voraussehen zu können (passive Kontrolle, d.h. die Möglichkeit der Vorausschau).8Wuss benutzt diesen Ansatz, um Spannung zu erklären. Demnach kann der Rezipient keine aktive Kontrolle auf den dargestellten Verlauf einer Geschichte ausüben, er kann allerdings passive Kontrolle gewinnen, indem er Hypothesen bildet. So entsteht dann Spannung.9

      Die Ansätze werden als Hintergrundtheorien angesehen, die sich auf einer tieferliegenden Ebene ansiedeln. Sie liefern damit Gründe dafür, warum Rezipienten überhaupt Spannung erleben können. In dieser Arbeit wird nicht weiter auf diese und ähnliche Forschungszweige eingegangen, weil diese sich linguistisch nicht beschreiben lassen. Wenn man allerdings annimmt, dass diese Ansätze sich auf einer tieferliegenden Ebene ansiedeln, so sollte mindestens einer kompatibel sein mit allem, was in dieser Arbeit besprochen wird.

      2.2 Zentrale Theorien im Bereich der Spannung

      In diesem Abschnitt werden die zentralen Ansätze zur Spannung vorgestellt. Dieser Teil des Kapitels zielt nicht darauf ab, die Literatur zur Spannung in allen Einzelheiten abzudecken. Die Auswahl der Ansätze soll lediglich als Überblick über die wichtigsten Ansätze dienen und über die Breite der verschiedenen Disziplinen und die damit verbundenen Konzeptionen orientieren. Darüber hinausgehende Aspekte zu einzelnen Teilbereichen werden in den Kapiteln bereitgestellt, die die einzelnen Spannungstypen behandeln.

      2.2.1 Sternberg

      Der israelische Literaturwissenschaftler Sternberg ist einer der ersten Autoren, die sich intensiv mit dem Phänomen Spannung auseinandergesetzt haben. Seine Analyse stammt aus dem literaturwissenschaftlichen Bereich der Rezeptionsästhetik. Er gibt in vielfacher Hinsicht wichtige Anstöße und bietet unter anderem drei Grundtypen der Spannung an.

      In seinem fundamentalen Werk zur Rezeption von Texten schreibt Roman Ingarden, dass nicht alle Aspekte einer Textwelt an der Textoberfläche realisiert werden. Zum Beispiel werden nicht in jedem Text die Augenfarbe, die Länge der Füße, die Färbung der Stimme, die Haltung und der Körperbau der Figuren zwangsläufig expliziert. Wo die Beschreibung ausbleibt, eröffnet ein Text sogenannte Unbestimmtheitsstellen bzw. Leerstellen, die die unterschiedlichsten Aspekte der Textwelt betreffen können. Diese können vom Leser ergänzt bzw. wie Ingarden es formuliert konkretisiert werden. Er spricht bei dieser leserseitigen Aktivität von der mitschöpferische Tätigkeit des Lesers.10

      Während diese von Ingarden hervorgehobenen Leerstellen zunächst kaum Spannungspotential besitzen, zeigen die rezeptionsästhetischen Arbeiten von Sternberg in eine deutlich andere Richtung. Spannung entsteht, sobald der Text über eine Reihe bestimmter Leerstellen verfügt. Zum einen können Zusammenhänge innerhalb der Textwelt im Verborgenen bleiben. Bei den Leerstellen kann es sich auch um Ursachen von Ereignissen und Motive von Figuren handeln, wobei dem Rezipienten das Vorhandensein der jeweiligen Leerstelle bewusst ist. Darüber hinaus kann der Leser sich fragen, was als nächstes passieren wird. Leerstellen lassen sich Sternberg zufolge als Fragen wiedergeben.11

      The literary text may be conceived of as a dynamic system of gaps. A reader who wishes to actualize the field of reality that is represented in a work, to construct (or rather reconstruct) the fictive world and action it projects, is necessarily compelled to pose and answer, throughout the reading-process, such questions as, What is happening or has happened, and why? What is the connection between this event and the previous ones? What is the motivation of this or that character?12

      Suspense ergibt sich bei zukunftsgerichteten Leerstellen, die mit der Frage einhergehen, was als nächstes passieren wird. Curiosity entsteht bei rückwärtsgewandten Unbestimmtheitsstellen, die die Vergangenheit betreffen. In Bezug auf das Curiosity fügt Sternberg beläufig hinzu, dass es bei diesem Spannungstyp eine Abweichung gibt zwischen der tatsächlichen Reihenfolge der Ereignisse (literaturwissenschaftlich ausgedrückt auch plot) und der auf der Textebene dargestellten Reihenfolge der Ereignisse (auch story). In der Textstruktur wird beim Curiosity ein Element ausgelassen, was dem Leser bewusst ist.13 Die Spannungsform des Puzzles wird bei Sternberg durch die Frage What is the connection between this event and the previous ones? angedeutet, darüber hinaus wird dieses nicht weiter besprochen. Der Spannungstyp wird allerdings bei einem anderen zentralen Forscher aus dem Bereich der Rezeptionsästhetik, Iser, auch erwähnt, der beim Puzzle die Kompositionsleistung des Lesers betont.14

      Der Leser kann Sternberg zufolge in zweierlei Weise auf Unbestimmtheitsstellen reagieren, einerseits kann er sie ignorieren und andererseits kann er sie füllen.15 Im zweiten Fall bildet er Hypothesen über die jeweilige Leerstelle aus. Anschließend überprüft er seine Hypothesen für die Unbestimmtheitsstellen, wobei diese Annahmen gegenläufig sein und sich ausschließen können. Zugleich können diese Hypothesen verschiedene Glaubenswahrscheinlichkeiten besitzen.16 Sowohl Leser als auch Werk beeinflussen die Bildung von Hypothesen.17

      2.2.2 Brewer

      An die Beschreibung des Curiosity und Suspense von Sternberg schließen die Forschungsarbeiten um den US-amerikanischen Kognitionswissenschaftler William F. Brewer an. Seiner Structural-Affect Theory zufolge hängen die dramatischen Effekte unterhaltender Texte von der Reihenfolge der Ereignis-Darstellung im Text ab. Dieser Ansatz hebt gezielt die Unterscheidung zwischen der tatsächlichen Reihenfolge von Ereignissen und der Reihenfolge ihrer Darstellung hervor, die bei Sternberg eher beiläufig erwähnt wird und die der israelische Autor lediglich für den Spannungstyp des Curiosity ausführt. So erhält Brewer einen seiner wesentlichen Anstöße von dem israelischen Literaturwissenschaftler.18

      Im Vergleich zu Sternberg, der sich auf schriftsprachliche Texte bezieht, heben Brewer und Lichtenstein hervor, dass es sich bei diesen Spannungstypen um Effekte handelt, die unabhängig von der Modalität entstehen. Sie können in schriftsprachlichen, in audiovisuellen etc. Texten realisiert werden.19

      Ein Suspense-Beispiel von Brewer und Lichtenstein:

(4) The sniper was waiting outside the house. Charles got up from the chair. He walked slowly toward the window. There was the sound of a shot and the window broke. Charles fell dead.

      Bei dieser