Spracherhalt und Sprachverlust bei Jugendlichen. Helena Olfert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helena Olfert
Издательство: Bookwire
Серия: Language Development
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823301707
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eine Übertragbarkeit dieser Annahmen auf ihren Kontext prognostizieren und erhalten in diesem Zusammenhang bezüglich zweier Kriterien eine umso höhere Relevanz:

      Der erste Aspekt, der für den HL-Erhalt wesentlich entscheidender sein kann als für den Erhalt der L1 bei Migranten der ersten Generation, ist das Alter des Sprechers bei Kontaktbeginn zur Mehrheitssprache. So argumentiert Paradis, dass es ausschließlich bei sehr jungen Migranten, die vor der Festigung ihrer L1 ausgewandert sind, zu einem unumstößlichen Verlust ihrer Erstsprache, also zu Attrition kommen kann (vgl. Paradis 2007: 130). Diese Tatsache wird damit begründet, dass bei Kindern bis zu einem bestimmten Alter ein voll und ganz ausgebautes, verfestigtes sprachliches System nicht anzunehmen ist.

      Für HL-Sprecher gilt im Vergleich dazu, dass sie das Wissen über ihre HL von Anfang an unter stetem Sprachkontakt zur Mehrheitssprache erwerben, der häufig nicht erst ab einem bestimmten Alter einsetzt, sondern konstant ab Geburt gegeben ist. Spätestens ab dem Schuleintritt lässt sich davon ausgehen, dass ein erhöhter Anteil der Kommunikation außerhalb des Elternhauses in der Mehrheitssprache stattfindet. Betrachtet man diese Spracherwerbssituation unter den Prämissen der Aktivierungsschwellen-Hypothese, lässt sich die Annahme formulieren, dass die Konsolidierung sprachlicher Strukturen bei HL-Sprechern eine längere Zeit in Anspruch nimmt, sodass sie von Attritionsprozessen nicht nur der seltenen und komplexen, markierten Strukturen, sondern von bereits in früher Kindheit erworbenen sprachlichen Strukturen betroffen sein können.

      Der zweite Aspekt, der ebenfalls auf die Gruppe der HL-Sprecher übertragen werden kann, ist die Relevanz des sprachlichen Inputs. Diesbezüglich kann für HL-Sprecher ebenso von einem leichteren Zugang zu sprachlichen Elementen bei häufigerer Aktivierung ausgegangen werden, während sie bei seltenerem Gebrauch verlorengehen bzw. durch funktionsäquivalente Strukturen der Mehrheitssprache ersetzt werden, falls für diese die Aktivierungsschwelle niedriger gesetzt ist. Für HL-Sprecher ist die Bedeutung des sprachlichen Inputs für Spracherhalt gleichzeitig aus zwei Gründen ungleich größer als für erwachsene Migranten der ersten Generation:

      (1) Der HL-Sprecher wächst im Gegensatz zu diesen von Anfang an in einer Sprachkontaktumgebung auf. Die Verwendung der HL ist für ihn folglich auf bestimmte Domänen des Sprachgebrauchs limitiert, die meist das intime Register darstellen und durch orate Strukturen artikuliert werden. Das formelle Register ist in den meisten Fällen durch die Mehrheitssprache besetzt. Auf diese Weise erhält der HL-Sprecher nicht die volle Bandbreite an sprachlichem Input in der HL, sodass die Aktivierungsschwelle für markierte Strukturen, insbesondere solche des formellen Registers, stets äußerst hoch gesetzt bleibt. Diese Strukturen sind nicht frequent und treten in der Inputart, die der HL-Sprecher erhält, eventuell nicht häufig genug auf, sodass sie erst gar nicht aktiviert werden können (vgl. Montrul 2011b: 593; Pires & Rothman 2009: 215).

      (2) Zusätzlich muss berücksichtigt werden, dass der HL-Sprecher seinen Input von Sprechern der ersten Einwanderergeneration erhält, die selbst seit mehreren Jahren in einer Sprachkontaktsituation mit der Mehrheitssprache leben (vgl. Kupisch 2013: 207). Für sie kann der Aktivierungsgrad bestimmter Strukturen ebenfalls hoch liegen, weshalb es bei diesen Sprechern nach den Erkenntnissen der Attritionsforschung zu Sprachkontakterscheinungen aus der L2 kommt. Diese Abweichungen liegen zwar eher rein auf der Performanzebene, aber genau diese bildet den sprachlichen Input der HL-Sprecher: „Differently from monolinguals, HSs [heritage speakers; H. O.] are exposed to input that has inevitably been affected to some degree by previous cross-generational attrition and/or other language contact consequences“ (Pascual y Cabo & Rothman 2012: 451).

      3.3.3 Unvollständiger bzw. divergenter Erwerb der Heritage Language

      Die Rolle des Inputs beim HL-Erwerb wird jedoch nicht nur im Zusammenhang mit Attritionsprozessen dieser Sprechergruppe diskutiert, sondern auch im Hinblick auf unvollständige Erwerbsverläufe, deren Eigenschaften sich im sprachlichen Output von HL-Sprechern niederschlagen. Der unvollständige Erwerb bezeichnet im Gegensatz zur Attrition einen Zustand, bei dem bestimmte Teile eines sprachlichen Systems nicht vollständig erworben wurden und somit keine „muttersprachliche“ Kompetenz als Resultat des Spracherwerbsprozesses gegeben ist (vgl. Montrul 2008: 19f.). Er nimmt seinen Anfang in der Kindheit des Sprechers, wenn unter bestimmten Voraussetzungen einige Strukturen der HL nicht erworben werden können, weil ein intensiver Kontakt zur Mehrheitssprache einsetzt.

      Als Ursachen für diesen Spracherwerbsverlauf werden ebenfalls sowohl der Einfluss der Mehrheitssprache als auch der reduzierte Sprachgebrauch bzw. der Mangel an Stimulus in der HL benannt (vgl. Köpke 2007: 11f.; Montrul 2008: 64). Montrul betont hierbei ähnlich wie im Falle von Attritionsprozessen die Bedeutung des Alters, in dem der Kontakt zur Mehrheitssprache beginnt, und unterstreicht gleichzeitig die Rolle des Inputs: „Fossilization in one of the languages (and possibly even in both) is likely when rich input in the language becomes reduced or is completely interrupted before the closure of the critical period“ (Montrul 2008: 20). Es kommt nach ihrer Auffassung dann zu unvollständigem Erwerb – hier unter dem Begriff „Fossilisierung“ – wenn durch äußere Umstände der Umfang des Inputs in der HL vor dem Erreichen der Pubertät verringert wird.

      Pires und Rothman unterscheiden zudem zwei Typen von unvollständigem Erwerb, die sie verstärkt mit der Art des erhaltenen Inputs in Beziehung setzen: Zum einen beschreiben sie tatsächlichen unvollständigen Erwerb von sprachlichen Strukturen, für die der Sprecher eindeutige positive Evidenz im Input erhielt. Zum anderen grenzen sie hiervon einen Erwerbsverlauf der HL ab, bei dem der Sprecher einige im Input fehlende sprachliche Strukturen nicht erwerben konnte (vgl. Pires & Rothman 2009: 214). Dieser zweitgenannte Fall ist zwar in seiner Äußerungsform mit dem ersten identisch, allerdings führen sie ihn auf die oben in Abschnitt 3.2.1 (1) und (2) diskutierten Eigenschaften des durch den HL-Sprecher erhaltenen Inputs zurück und betrachten das Resultat dieses Erwerbsprozesses somit nicht als unvollständig, sondern als divergent (missing-input competence divergence, vgl. ebd.). Erst die Unterscheidung in unvollständig vs. divergent berücksichtige die Erwerbssituation dieser Sprecher, da dadurch nicht ausschließlich die von Monolingualen im Herkunftsland erworbene standardnahe Varietät als Zielfolie gelte, sondern auch der auf informelle Kommunikation im intimen Register ausgerichtete Input durch Migranten erster Generation einbezogen werde. Als unvollständig ist der Erwerbsverlauf einzig in dem erstgenannten Szenario zu bezeichnen, also dann, wenn der durch den HL-Sprecher bezogene Input erwiesenermaßen die zu erwerbende Struktur enthielt.

      3.3.4 Attrition vs. unvollständiger bzw. divergenter Erwerb

      Der HL-Sprecher kann ferner von beiden hier beschriebenen Prozessen – sowohl von Attrition als auch von unvollständigem bzw. divergentem Erwerb – betroffen sein: Ist beispielsweise das Fehlen eines grammatischen Merkmals zu verzeichnen, so bedeutet dies nicht zwingend, dass es zu keiner Zeit vorlag (unvollständiger / divergenter Erwerb), es kann ebenso wieder eingebüßt worden sein (Attrition). Attrition und unvollständiger / divergenter Erwerb schließen sich folglich im Erwerbsprozess des HL-Sprechers nicht aus (vgl. Montrul 2008: 162f.). Um welches der beiden Phänomene es sich handelt, ist bei erwachsenen HL-Sprechern nur anhand des sprachlichen Outputs nicht mehr nachvollziehbar. Allein Longitudinalstudien sind in der Lage, solche umfassenden Verläufe zu dokumentieren und nachzuzeichnen. In diesem Zusammenhang verglich Polinsky (2011) exemplarisch in einer Quasi-Longitudinalerhebung vier unterschiedliche Sprechergruppen miteinander, um erste Hinweise darauf zu erhalten.

      Sie testete Monolinguale und HL-Sprecher des Russischen, die sie gleichzeitig in Erwachsene und Kinder (Durchschnittsalter 6 Jahre) unterteilte, in Bezug auf deren Verständnis von Relativsätzen. Allen Probanden wurden Relativsätze auditiv vorgespielt, denen sie entsprechende Bildkarten zuordnen sollten. Die Studie konnte keine Unterschiede zwischen den monolingualen Kindern, den monolingualen Erwachsenen und den bilingualen Kindern feststellen. Einzig erwachsene HL-Sprecher unterschieden sich negativ sowohl von den erwachsenen monolingualen Sprechern als auch von den Kindern mit Russisch als HL (vgl. ebd.: 319f.). Polinsky interpretiert diese Werte als einen Beleg dafür, dass der sprachliche Output der von ihr untersuchten erwachsenen HL-Sprecher kein Ergebnis eines unvollständigen Erwerbs sein kann, da das entsprechende Wissen bei den bilingualen Kindern als Quasi-Kontrollgruppe noch vorhanden war. Vielmehr seien diese