Farinet oder das falsche Geld. Charles Ferdinand Ramuz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charles Ferdinand Ramuz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783038550143
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der Nacht gekommen und gleich wieder weggegangen, denn er hatte Angst bekommen; eine der Mün­zen hatte er in den Geldbeutel gesteckt und die anderen in ein Ledertäschchen, das er unter dem Hemd trug. Er hatte sich gleich auf den Rückweg gemacht und sich abseits, im Schatten des zerklüfteten Berges, über die Wiesen oder durch die Weinberge vorgepirscht und war im Morgengrauen wieder in Sion gewesen.

      Zu der Zeit wurden die Cafés eben erst geöffnet; er suchte eines, ein ruhiges, abgelegenes; denn er hatte Hunger und Durst. Er war dabei in ein Gässchen gekommen, wo ein kräftiges Mädchen, er hatte sie zuerst nur von hinten gesehen, gerade die Läden von einem Fenster wegnahm, über dem mit gelben Buchstaben auf einem Schild geschrieben war: «Café de la Croix-Blanche». Sie hob die Arme, um die Bretter von den Scheiben abzunehmen, eines nach dem andern.

      Er hatte gesagt:

      «Kann man hier etwas bekommen?»

      «Natürlich», hatte sie gesagt, ohne sich umzudrehen. «Sie sehen doch, dass hier offen ist.»

      Er hatte zuerst festgestellt, dass niemand drinnen im Café war; er hatte sich hinten hingesetzt in dem Raum, der schmal und lang war, und hatte erst noch darauf Acht gegeben, dass er der Tür den Rücken zukehrte.

      Das kräftige Mädchen kam wieder herein.

      «Geben Sie mir einen halben Liter Fendant mit einer Portion Brot und Käse.»

      Er hatte sie noch immer nicht angesehen, aber sie hatte im Weggehen ihn angesehen; und sie hatte nichts gesagt, sondern hatte den Wein geholt, ein Glas, einen Teller und ein Messer, dann auf einem zweiten Teller ein dickes Stück Brot und eine Portion Käse; und als sie wieder da war, hatte sie noch einen Topf mit Senf auf den Tisch gestellt; und jedes Mal hatte sie die Gelegenheit benützt, ihn verstohlen anzusehen.

      Er senkte vorsichtig den Kopf; er hatte den Hut aufbehalten, vom Gesicht konnte man nicht viel mehr sehen als den Bart, der nachwuchs.

      Er schwieg ganz von selber, er musste nur seinen Ap­petit reden lassen. Er schnitt mit dem Messer an dem Brot herum; er leerte das Glas auf einen Zug. Er schnitt den Käse in Würfel, die er gleichzeitig mit einem Stück Brot zum Mund brachte. Er hatte sich wieder eingeschenkt, er hob den Ellbogen. Dann fuhr er sich mit der Hand über den kurzen Schnauz und aß weiter.

      So hatte er nicht gesehen, wie ihn die Kellnerin immer noch beobachtete, wie ihre geübten Finger sich unterdessen allein im Wollgarn und mit den Nadeln zurechtfanden, die ein helles kleines Geräusch machten. Sie saß beim Zahltisch, zu ihm gekehrt. Und als er jetzt fertig war mit Essen und aufblickte, jetzt in demselben Augenblick hatte er sie erkannt, und im selben Augenblick hatte er gesehen, dass sie auch ihn erkannte.

      Er hat nichts gesagt.

      Er war nur halb schon aufgestanden, er dachte bloß daran, sich aus dem Staub zu machen. Aber als ihm einfiel, dass er seine Zeche nicht bezahlt hatte, ließ er sich auf den Stuhl zurücksinken. Denn es blieb ihm nichts übrig, als mit einem seiner Goldstücke zu bezahlen.

      Er hatte seinen Geldbeutel hervorgeholt; er tat, als such­­­­­­­te er darin, und fragte dann, ohne aufzublicken:

      «Fräulein, könnten Sie mir vielleicht zwanzig Franken wechseln?»

      Er hatte sie antworten gehört:

      «Oh, ich glaube schon.»

      Er hatte die Münze neben sich auf den Tisch gelegt.

      Er hat gehört, wie sie kam, wie sie die Münze nahm.

      Er hatte gefürchtet, nun würde sie zunächst einmal un­tersucht, seine Münze; aber nein, sie wurde kaum angesehen; und jetzt hörte er das Mädchen aus dem Lokal gehen, durch eine Tür hinter dem Zahltisch.

      Nun war er in seiner Angst sofort aufgesprungen. Er hatte sich überlegt, dass er auf der Straße sein würde, bis das Mädchen zurückkam. Dann hatte er sich doch wieder hinge­setzt, denn er sagte sich, wenn er so davonliefe und das Geld zurückließe, würde er sich erst recht verraten. Das Mädchen brauchte nur zu rufen, und man würde hinter ihm her sein. Es war jedenfalls besser, er wartete, auf gut Glück.

      Und da war auch die Kellnerin schon wieder da; sie hatte gesagt:

      «Das macht einen Franken siebzig …»

      Dann legte sie die Geldstücke, eins nach dem anderen, vor ihn hin:

      «Das sind zwei, und einer sind drei, und einer, vier, und einer, fünf … Und fünf, das macht zehn … und fünf, fünfzehn, und fünf, zwanzig … Danke schön …»

      Nickel- und Silberstücke, die er mit einem Blick zusammengerechnet hatte. «Stimmt», sagte er; er hatte den Geldbeutel wieder aufgemacht und alle Münzen hineinfallen lassen bis auf ein Zwanzigrappenstück, das er in der Hand behielt.

      Er war aufgestanden, hatte den Stuhl zurückgeschoben.

      «Das ist für Sie …»

      «Oh, Herr Farinet …»

      Er hatte seinen Namen gehört; er saß wieder.

      «Ach nein, Herr Farinet, bitte nicht, ich freue mich so schon …»

      Eine leise, etwas traurige Stimme; und er hatte gesehen, wie sie die zwanzig Rappen zu ihm zurückschob; da hatte er sie angeschaut:

      «Wie …»

      Sie wandte den Kopf. Er hatte gesagt:

      «Wie … Sie wissen …?»

      «Oh, ich habe Sie gleich erkannt.»

      Er sagt:

      «Ich glaube, ich kenne Sie auch.»

      «Joséphine Pellanda … Erinnern Sie sich nicht: in Mièges … Bei Crittin … Ich war dort eingesprungen … Es ist bald drei Jahre her …»

      «Ach», sagt er, «sind Sie das; jetzt weiß ich wieder.»

      Und dann fragt er gleich:

      «Und Sie wissen …?»

      «Klar», sagt sie, «jeder weiß es. Man hat von Ihnen in den Zeitungen gelesen …»

      «Dann muss ich jetzt gehen», sagt er.

      «Ach nein», sagt sie, «warum? Wenn Sie’s nicht eilig haben … Sie sind hier bei Freunden. Ihr Goldstück, wis­-

       sen Sie, das behalte ich. Ich habe mir schon lang eins ge­-

       wünscht …»

      Da war ein riesiges Gewicht ihm von der Brust genommen worden, wie wenn ein Mann unter einen Baumstamm geraten ist, und man kommt mit der Hebewinde.

      «Wirklich?»

      «Oh ja. Und es geht vielen wie mir. Weil man schon weiß, dass das Gold ist, weil man schon weiß, dass Sie die Leute nicht anschwindeln.»

      «Ja», sagt er, «und das ist auch wahr.»

      Sie stand immer noch neben ihm, und er saß: so dass er den Kopf heben musste und sie jetzt auf ihn herabsah – ein großes Mädchen, nicht mehr ganz jung, etwas voll, in einem dunkelgrauen Mieder mit hochgeschlossenem schwarzem Samtkragen, Sommersprossen im Gesicht, die Haare sauber nach hinten gestrichen.

      Und es war leicht zu sehen, dass sie selbst auch die Wahrheit sagte; so wurde er wieder ruhig und war gleichzeitig geschmeichelt; er sagte – denn so war er eben – zu ihr:

      «Wenn Sie noch eine wollen, von meinen Münzen, das ist keine Sache, ich habe jetzt welche; grad heut Nacht hab ich geholt …»

      «Oh», sagte sie, «heute Nacht!»

      Und er nestelte inzwischen unter dem Hemd.

      «Oh, Herr Farinet, nein …»

      «Doch», sagt er, «als Andenken und weil Sie mich so gut aufgenommen haben … Da.»

      Er hatte ein zweites Goldstück auf den Tisch gelegt.

      Sie waren ein wenig zu gelb, seine Münzen, oder ein wenig zu hellgelb.