Farinet oder das falsche Geld. Charles Ferdinand Ramuz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charles Ferdinand Ramuz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783038550143
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in den Bergen alle möglichen Kräuter und Pflanzen sammelte und sie an die Apotheker verkaufte. Der alte Sage war über siebzig; er brauchte einen Gehilfen.

      Vater Sage wohnte in einem kleinen Haus, das auf dem Grund der alten Stadtmauer, etwas außerhalb des Ortes, stand; er lebte seit langem allein, denn er galt so ein wenig als Wasserfinder und Hexenmeister, und neben seinen Pflanzen suchte er Gold. Man behauptete sogar, er habe welches ge­funden. Anscheinend gab es auf der Höhe des Gebirgszuges nördlich über Mièges, auf über 2500 Metern, eine Ader, die der alte Sage entdeckt hatte; und die hatte er Farinet schließlich gezeigt. Die Zeit verging; der alte Sage hatte keine Kinder, keine Familie, er sagte sich: «Er kann mein Sohn sein. Ich vermache ihm mein Haus und zeige ihm, wo ich mein Pulver finde.» Und Farinet begann nun auch, sich Pulver zu holen. Nur begnügte sich der alte Sage damit, sein Gold zu horten, viele kleine Scheiben und gelbe Kiesel, so wie sie waren, in ein Kästchen einzuschließen, Farinet war an­schlägiger, er verfiel darauf, eine Gipsform zu basteln und ein Lötrohr zu kaufen. Und als der Alte gestorben war, hatte er angefangen, seine Stücke in Umlauf zu setzen. Es gab ganz in der Nähe, in der Schlucht der Salenche, eine schöne trockene Höhle, die mit dem Keller des Hauses in Verbindung stand; dort hatte er seine Werkstatt eingerichtet, um vor Überraschungen sicher zu sein. Er war beliebt bei den Leuten, weil sie seinem Gold trauten und weil er freigebig war.

      Nur hatte er einmal zu seinem Unglück die Grenze überschritten, als er viele Münzen abzusetzen hatte; weil sie einen ziemlich großen Betrag ausmachten, hatte er zu seinem Unglück gemeint, er würde sie in Aosta leichter um­wechseln können, auf italienischem Boden, jenseits des Großen Sankt Bernhards.

      In Aosta hatten sie ihn erwischt.

      Die Polizei hatte keine Nachsicht gezeigt, der Richter erst recht nicht. Er war zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt worden: Mehr als zwei davon hatte er abgesessen, bevor er entweichen konnte.

      Er erinnerte sich, wie hart und schwierig die Rückkehr gewesen war. Eine ganze Nacht und einen ganzen Tag hatte er sich durch Geröll und durch Schneemulden vorangearbeitet, über der Vegetationsgrenze, und hatte nirgend etwas zu essen gefunden.

      Er hatte sich ins Gebirge halten müssen, hoch über dem bewachten Pass, den er schließlich am Nachmittag ge­sichtet hatte, mit seinem kleinen See und mit dem Hospiz, mehrere hundert Meter unter ihm; er verbarg sich hinter einem Felsblock, glitt am Boden hin zum nächsten, während Eiswasser unter allen Steinplatten hervorquoll; er hatte die Knie und die Hände im Wasser, und in jeder Vertiefung lag Schnee, obwohl es Hochsommer war. Er hatte seit dem Vorabend nichts gegessen; und nichts zeigt sich hier, was einem hungrigen Mann helfen konnte: kein Strauch, nicht die kleinste Beere, nichts, was die Erde hervorbringt. Was ihn aufrecht hielt, war die Aussicht, zur Nacht daheim an­zukom­men, wo er sich den Bauch füllen und ausschlafen konnte; und warm würde er haben und ein Dach (denn jetzt lag er draußen ganz nah bei den Wolken, er hätte sie mit der Hand berühren können, wenn sie vorbeizogen); und er sah auf dem Weg unten, am Ufer des kleinen Sees, zwei Mönche in schwarzen Kutten spazieren und etwas weiter vorn das Zollhäuschen, und davor stand ein Zöllner, nicht größer als der kleine Finger. Ah, er musste sich schon da verstecken, er muss­te vorsichtig sein! Er kriecht weiter auf seiner Felshöhe, ja auf dem Grat des Berges, weit von begangenen Stellen, und befiehlt seinem Magen, still zu sein; und so, bald verborgen, bald auftauchend und wieder verschwindend, hatte er sich an den Abstieg gemacht, er war immer hoch über dem Weg geblieben, in der großen Steinwüste zuerst, dann am Rand, wo es grün wird; endlich war der Abend gekommen.

      Er hielt sich in der Höhe über dem Dorf, es lag genau unter ihm.

      Er hatte sich so postiert, dass er gleich zu ihrem Haus kommen musste. Er hatte gewartet, bis es Nacht wurde. Er brachte seinen Magen zum Schweigen, indem er die Hand darauf legte, doch er sagte zu sich: «Nur noch einen Augenblick.» Es war dunkel geworden, man hatte ein Licht im Stallfenster gesehen. Dann hatte er sich genähert; er hatte seinen Bruder Antoine erkannt. Er hatte ihm gerufen. Da hatte aber Antoine den Mund ganz weit aufgesperrt vor Überraschung und hatte gesagt:

      «Du bist’s … Wo kommst du her?»

      «Hör», sagte Maurice, «versteck mich schnell … Ich erzähle dir später …»

      Und er ging auf die Haustür zu, aber Antoine sagte:

      «Geh nicht hinein … Komm mit mir.»

      Er hatte ihn zu einem alten Gaden geführt, gleich da­neben.

      So schwach und so müde war Farinet, dass er sich nicht widersetzt hatte. Er sagte:

      «Hast du etwas zu essen?»

      Antoine hatte ihm etwas zu essen und etwas zu trinken geholt.

      Und während Farinet im Heu saß und aß, sagte An­toine:

      «Es ist besser, wenn du nicht hineingehst … Alles kommt hier durch, der Ort ist voll von Landjägern … Du wärst hier nicht sicher. Iss und ruh dich aus, dann …»

      Farinet aß, darum sagte er nichts …

      «Oh, man hat es in den Zeitungen gelesen», sagte An­toine. «Du kommst von dort unten?»

      Er machte eine Kopfbewegung, um auf die andere Seite der Grenze zu deuten.

      «Da hast du also entwischen können? … Jetzt musst du einen Ort finden, wo du besser versteckt bist als hier, denn hier …»

      Farinet aß immer noch, darum sagte er nichts. Dann lässt er sich ins Heu sinken.

      Er sagt nur:

      «Und die Mutter?»

      «Oh – sie steht schon lang nicht mehr auf.»

      «Und Apolline?»

      «Verheiratet.»

      «Und Léonie?»

      «Auch.»

      «Und Jérôme?»

      «Hat eine Stelle.»

      Da hatte er alles begriffen, obwohl er schon halb einge­schlafen war. Antoine war jetzt der Herr im Haus, und er hatte auch im Sinn, es zu bleiben. Denn er fing wieder an:

      «Verstehst du, seit du dich nicht mehr hast blicken lassen, wie lang ist es her?, da ist hier allerhand passiert …»

      «Das macht nichts», sagte Maurice, «ich hätte nur der Mutter Guten Tag sagen wollen.»

      Aber Antoine sagte:

      «Besser nicht. Es würde sie aufregen. Und weil du so­wieso gleich wieder fortmusst …»

      Farinet schlief schon; er hatte ihn nicht weiterreden gehört. Und auch am nächsten Morgen hatte Antoine ihn ein paar Mal schütteln müssen; er hatte ihm Kleider gebracht, frische Wäsche und zwanzig Franken. Er hatte Kleider und Wäsche gewechselt. Er hatte die zwanzig Franken genommen.

      Ja, er erinnerte sich gut an die Rückkehr nach Bourg-Saint-Pierre, am Ende des mühsamen Weges über die Hö­­hen; da war er nun bei Tagesanbruch wieder droben im Gebirge gewesen; aber vielleicht war das besser so, er sag­te sich: «Wir wären nicht miteinander ausgekommen. Und dann hätte er mich anzeigen können, um mich loszuwer­den …»

      Nur, was sollte er jetzt tun? Es gab zwei Lösungen. Er konnte entweder nach Mièges zurückkehren, wo er seine Höh­­­­­le und die ganze Einrichtung zum Goldmachen hatte und gut versteckt wäre; oder er konnte auch nach Sion ge­­hen, das ist der Hauptort, also eine Stadt, viele Bewohner mit vielen Häusern, er würde da nicht auffallen. In Mièges würde man sofort wissen, dass er zurück war. In Sion würde niemand etwas wissen, und das war für den Augenblick besser (denn sicher hatte die italienische Regierung die Walliser Regierung schon benachrichtigt). Sein Bart begann zu wachsen, er würde ihn wachsen lassen, den Bart. Er hatte jetzt Kleider, wie man sie hierzulande trug; er war aus der Gegend, er sprach wie die Hiesigen … Er hatte sich schließlich für Sion entschieden.

      Niemand hatte ihn erkannt.

      Alles war gut gegangen, nur hatte er schon nach drei oder vier Tagen kein Geld mehr gehabt; da war er aufgebrochen, an einem Abend,